T Tödliche Spur: Thriller (German Edition)
war.
Ava überlegte, ob sie überhaupt antworten sollte, doch ihr fehlte die Kraft für Spielchen. »Nachdenken«, erwiderte sie deshalb.
Ihre Cousine holperte über den unebenen Weg und hielt vor der Bank an, den Blick auf den Gedenkstein gerichtet.
»Deshalb bin ich auch hier. Ich finde, das hilft. Er fehlt mir«, fügte sie hinzu, fast, als spräche sie mit sich selbst, und Ava fühlte, wie die Eisschicht um ihr Herz anfing zu schmelzen. »Hier habe ich das Gefühl, Noah näher zu sein.«
»Ja.« Avas Stimme war heiser. »Ich dachte, du hättest Physiotherapie.«
»Die hab ich abgeblasen.« Sie warf Ava einen schrägen Seitenblick zu. »Bringt ja doch nichts.«
»Aber der Arzt sagt –«
»Der Arzt«, schnaubte Jewel-Anne. »Was weiß der schon? Er stellt Rezepte aus, legt mir eine Ergotherapie nahe, empfiehlt mir den Besuch bei einem Psychologen oder irgendwelche Beschäftigungen, die mich ablenken sollen, aber das ändert doch sowieso nichts.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Hastig wischte sie sie fort, dann sagte sie: »Du bist genau die Richtige für ein Gespräch wie dieses! Du tust doch
nie,
was man von dir erwartet. Ach, übrigens, Khloe hat mich gebeten, dich an deinen Termin mit deiner Therapeutin zu erinnern. Sie ist auf dem Weg hierher.«
Bei dem Gedanken an eine weitere Sitzung mit Dr. McPherson wurde Ava schwer ums Herz. Das Letzte, wozu sie jetzt Lust hatte, war herumzusitzen und mit der Psychiaterin über ihre »Gefühle« zu reden. Vielleicht sollte sie sie mit ihrem erotischen Traum schockieren.
Jewel-Annes Handy piepte. Sie zog es aus der Jackentasche und blickte aufs Display.
»Na prima«, sagte sie seufzend, als sie die SMS las. »Mrs. Marquis de Sade möchte mich im Ballettstudio sehen, und zwar
pronto.
« Stirnrunzelnd steckte sie das Telefon wieder ein. »Ich mache mich besser auf den Weg, bevor sie nach mir sucht und richtig sauer wird.« Geschickt wendete sie ihren Rollstuhl und rollte zurück zu der Rampe an der Hintertür.
Ava sah ihr hinterher. Sie hatte sich oft gefragt, wie es wohl sein mochte, an den Rollstuhl gefesselt zu sein, und verspürte großes Mitleid, sogar Schuld, doch jedes Mal, wenn sie einen Schritt auf ihre Cousine zugehen wollte, tat diese irgendetwas Herzloses, geradezu Grausames, sodass sich ihr Mitgefühl schlagartig in Luft auflöste.
Gib ihr eine Chance. Versuch es zumindest. Was kann das schon schaden?
Wieder allein, kniete Ava nieder und ließ die Finger über den Gedenkstein ihres Sohnes gleiten. Gott sei Dank lag kein kleiner Leichnam unter dieser Erde, auf der blätterlose, dornige Rosenbüsche wuchsen, deren Blüten schon vor Monaten abgestorben waren.
Ava schluckte schwer, schloss für einen Moment die Augen und versuchte, die Fassung wiederzugewinnen. Erneut hatte sie das Gefühl, sie würde beobachtet, sie sei nicht allein hier im Garten. Ihre Haut kribbelte, und das kam bestimmt nicht nur von der Kälte. Sie öffnete die Augen und ließ den Blick über die verwilderten Sträucher schweifen. Außer einer Möwe, die in die Bucht hinabstieß, war niemand zu sehen.
Trotzdem …
Sie warf einen Blick über die Schulter Richtung Haus und meinte, eine Bewegung hinter einem der oberen Fenster bemerkt zu haben, einen Vorhang, der sich bewegte … in Noahs Kinderzimmer?
Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus.
War jemand im Zimmer ihres Sohnes? Und wenn ja, wer?
Das hat nichts zu bedeuten. Bestimmt ist es Graciela, die Staub wischt …
Doch sie war bereits aufgesprungen und eilte mit immer schnelleren Schritten die Stufen hinauf und durch die Hintertür zur Küche, wo sie beinahe mit Virginia und einem heißen Backblech voller Kekse zusammengeprallt wäre. Eine Entschuldigung murmelnd, ließ sie die Köchin stehen und hastete durch den Flur in Richtung der Haupttreppe im Foyer, dann, zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf in den ersten Stock.
Oben angekommen, zögerte sie keine Sekunde. Wie ein Wirbelwind rannte sie zu Noahs Zimmer. Die Tür war angelehnt.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie vorsichtig über die Schwelle trat. Weitere Erinnerungsfetzen schwappten über sie hinweg und ihr ach-so-bereitwilliges inneres Auge spiegelte ihr vor, dass er in seinem Kinderbettchen lag, aber das stimmte nicht.
Doch was war das? Ihr Herz machte einen Satz, als sie die Schuhe entdeckte.
Noahs Schuhe.
Sie lagen da, als habe er sie gerade erst abgestreift.
Nein!
Jetzt stieg ihr der Geruch von Salzwasser in die Nase, und sie stellte
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