T Tödliche Spur: Thriller (German Edition)
Schlafzimmers entfliehen. Dazu kam, dass die WLAN -Verbindung in der Bibliothek besser funktionierte als oben, weil sie näher an Wyatts Arbeitszimmer lag, wo das Modem stand.
Sie verbrachte mehrere Stunden damit, ihre Notizen einzupflegen, den Joghurt zu essen, Kaffee zu trinken und die Artikel zu Noahs Verschwinden durchzugehen, die sie im Internet gefunden hatte. Plötzlich drang ihr aus der Ferne das schwache Geräusch von Sirenen ans Ohr, das über die Bucht zur Insel hallte. Ein Schauder überlief sie, doch sie schenkte dem keine weitere Beachtung. Als sie den Computer herunterfuhr, fiel ihr Blick auf ein Foto, das nur wenige Tage nach Noahs Geburt aufgenommen worden war. Sie schob den Stuhl zurück, stand auf und trat an das Regal, auf dem das Bild stand. Behutsam nahm sie es in die Hand und betrachtete es.
»Ulkiger kleiner Mann«, sagte sie zu dem roten Bündel, das auf dem Sofa lag. Die Geburt war schwer gewesen, auch wenn sie sich kaum daran erinnerte. Dieses wundervolle Ereignis so kurz nach Kelvins Tod war – wie so viele andere Dinge – in irgendeinen abgelegenen Winkel ihres Gedächtnisses verbannt. Die Monate bis zu seiner Geburt lagen ebenfalls so gut wie im Dunkeln, auch wenn sie sich an ihre Panik erinnerte, dass auch diese Schwangerschaft schiefgehen würde. Tatsächlich war Noah früher zur Welt gekommen als erwartet, doch er war gesund gewesen.
Wenn sie an das Krankenhaus dachte und an die Ärzte, die versuchten, die Ruhe zu bewahren, an die grellen Lichter und den Schmerz, sah sie ganz ähnlich verschwommene Bilder vor sich wie die, die ihr von dem Segelunfall im Gedächtnis geblieben waren. Dieselben unzusammenhängenden, beängstigenden Erinnerungen, doch zumindest hatte Noah es geschafft.
Die Augen auf das Foto geheftet, spürte sie, wie sich ihr die Kehle zusammenschnürte. Dann stellte sie das Bild beiseite und trat an das Fenster mit Blick auf den Garten und den kleinen Gedenkstein mit der Bank davor. Nach einer Weile wandte sie sich ab und durchquerte die Bibliothek zu den Stufen, die hinunter zum Billardraum führten. Solange Ava denken konnte, stand hier ein Pooltisch aus dunklem Eichenholz, dessen grüne Stoffbespannung inzwischen verblasst war. »Ein potthässliches Ungetüm«, hatte ihre Großmutter ihn genannt.
Ava trat durch die Glastüren hinaus in den Garten, zum Gedenkstein ihres Sohnes. Trockene Blätter wirbelten über die Wege, während sie auf der Bank Platz nahm und den gravierten Stein betrachtete. Noah lag hier nicht begraben, doch an einem bewölkten, stürmischen Tag wie diesem fühlte sie sich ihm hier am nächsten.
»Wo bist du?«, fragte sie laut. Plötzlich fiel ihr Blick auf frische Spuren auf den nassen Steinplatten. Schlammige große Fußabdrücke, offensichtlich von einem Mann, daneben die Rillen der Reifen von Jewel-Annes Rollstuhl.
Jewel-Anne fuhr oft diese mit Rhododendren und wuchernden Hortensien gesäumten Gartenwege entlang, ganz gleich, wie holprig oder zugewachsen sie waren, und fast immer hatte sie eine ihrer grässlichen Puppen bei sich. Ava hatte sie oft an ebenjener Stelle gesehen, wie sie auf den Gedenkstein ihres Sohnes starrte, nur wenige Meter von der Rückseite des Hauses entfernt.
Ava rieb sich fröstelnd die Hände. Die Novemberluft war kühl, die Feierlichkeiten zu Thanksgiving und Weihnachten standen vor der Tür. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich auf die Weihnachtszeit gefreut, doch nach dem Verlust von Noah hatte sich das geändert.
Alles
hatte sich geändert, nichts war mehr, wie es vorher gewesen war.
Sie blickte über die Bucht. Weiße Schaumkronen tanzten auf dem grauen Wasser.
Warum nur gab sich jeder außer ihr damit zufrieden, dass Noah »verschwunden« war? Sogar Wyatt schien sich damit abgefunden zu haben, dass er seinen Sohn nie wiedersehen würde. Warum sonst hatte er den Gedenkstein errichten lassen?
Ava blickte auf den Stein, in den der Name ihres Sohnes eingemeißelt war. Wo zum Teufel mochte er sein?
Über das Rauschen des Windes hinweg hörte sie, wie die Hintertür geöffnet wurde, dann ertönte das Surren von Jewel-Annes Rollstuhl auf der Rampe.
Na großartig. So viel zum Thema Alleinsein.
Ava stand auf und hörte ihre Cousine über den Gartenweg rollen. Eingepackt in eine dicke Jacke, eine braunhaarige, ähnlich gekleidete Puppe neben sich, bog Jewel-Anne um die Hausecke.
»Was machst du hier?«, fragte sie. Das waren die ersten zivilen Worte, seit sie mit Ava in Wyatts Büro aneinandergeraten
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