Tabu: Roman (German Edition)
klatschte.
»Es erinnert mich an Goya, Herr Biegler. Er hat das Gleiche getan. Er hat auf die Wände seines Landhauses seine Albträume gemalt, die ›schwarzen Bilder‹, Riesen, die Menschen fressen und ihre Köpfe abbeißen. Sie sind vielleicht das Beste, was er gemacht hat.«
Sofias Lippen waren blau. Biegler zog seinen Mantel aus und hängte ihn um ihre Schultern.
»Weiß man, warum?«, fragte er.
»Goya war taub geworden, er war ganz in sich eingeschlossen. Ich glaube, dass es der Verlust war, seine Einsamkeit.«
Biegler nickte. »Ich bin froh, dass Sie mitgekommen sind.«
Er zündete sich einen Zigarillo an, er schmeckte ihm nicht. »Wussten Sie, dass sich die meisten Selbstmörder in den Kopf schießen, wenn sie die Möglichkeit dazu haben? Nicht ins Herz – in den Kopf. Es ist das Entsetzen über sich selbst. Wir ertragen unsere eigene Schuld nicht. Wir schaffen es, jedem zu vergeben, unseren Feinden, den Verrätern, den Menschen, die uns betrügen. Nur bei uns selbst gelingt uns das nicht, wir können uns einfach nicht verzeihen. Daran scheitern wir: an uns selbst.«
»Immerhin wurde er geliebt von dieser Frau«, sagte Sofia nach einer Weile.
»Gerettet hat es ihn nicht«, sagte Biegler. Er streckte seine Beine aus. Die Abdrücke der Hundepfoten waren noch auf seiner Hose.
»Menschen können sich ändern«, sagte Sofia.
»Ach, kommen Sie, solche Sätze sagt James Stewart in seinen Filmen. Nein, Menschen ändern sich nicht, das gibt es nur in Romanen. Wir stehen nebeneinander, wir berühren uns kaum. Es gibt keine Entwicklung. Wir erleben etwas, vielleicht geht es gut, meistens geht es schief. Nur als Schauspieler werden wir besser. Wir lernen zu verbergen, wer wir wirklich sind«, sagte Biegler.
Sofia zog Bieglers Mantel enger um sich. »Vielleicht kannte Sebastian die Geschichte seines Vaters und die Geschichte von Goyas schwarzen Bildern. Vielleicht hat er deshalb das Foto ›Majas Männer‹ gemacht«, sagte sie.
»Vielleicht. Wann haben Sie sich eigentlich getrennt?«, fragte Biegler.
»Kurz nachdem er sie kennengelernt hat. Ich wusste ja nicht, dass es seine Schwester war. Er müsse allein sein, sagte er. Erst einen Tag vor seiner Verhaftung rief er mich in Paris an, elf Monate nach der Trennung, elf Monate, in denen ich fast verrückt geworden bin. Er sagte, er brauche mich. Ich bin sofort nach Berlin gefahren, aber er saß schon im Gefängnis. Seitdem besuche ich ihn alle zwei Wochen in der Untersuchungshaft. Wir haben nicht über die Sache geredet, weil er das nicht wollte.« Sie legte ihre Hand auf Bieglers Arm. »Ich vermisse ihn so sehr. Es kommt mir vor, als hätte jemand die Vorhänge zugezogen und das Licht ausgemacht. Was hat das alles bloß für einen Sinn?«
»Die meisten Fragen bleiben am Ende offen.« Biegler sah auf die Uhr. »Sie sind übernächtigt. Setzen Sie sich bitte in den Wagen, dort ist es wärmer«, sagte er.
Er ging zurück ins Haus, klappte die Fensterläden zu und schloss die Tür ab. Undeutlich konnte er unten im Dorf das Dach des Gasthauses erkennen.
8
Die Hauptverhandlung sollte um neun Uhr beginnen. Vor dem Gericht, auf den Fluren und vor dem Verhandlungssaal standen Journalisten mit Kameras. Biegler hatte noch nie so viele Reporter bei einem Verfahren erlebt. Die beiden großen Nachrichtensendungen hatten am Vorabend das Verfahren angekündigt. Er sah Staatsanwältin Landau von Mikrofonen umringt, aber er konnte in dem Gedränge nicht hören, was sie sagte. Er hatte vor der Verhandlung fast jeder Zeitung ein Interview zu der Folter gegeben, er war sogar in eine Talkshow gegangen, obwohl es ihm zuwider war. Als er jetzt den Saal betrat, lehnte der Vorsitzende am Richtertisch und sprach mit seiner Protokollführerin. Er nickte Biegler zu.
»Wird ein anstrengender Tag«, sagte der Vorsitzende.
Biegler zuckte mit den Schultern. »Affentheater«, sagte er.
Ein paar Minuten nachdem Biegler sich gesetzt hatte, öffnete sich eine kleine Tür in der Holzvertäfelung und zwei Wachtmeister brachten Eschburg in den Saal. Er setzte sich neben Biegler, er wirkte gelassen.
Es dauerte fast dreißig Minuten, bis die Journalisten und Zuhörer im Saal Platz genommen hatten. Die Wachtmeister ermahnten mehrfach zur Ruhe. Als die Richter und Schöffen den Saal betraten, standen die Prozessbeteiligten und die Zuschauer auf.
»Die Sitzung der 14. Großen Strafkammer ist eröffnet«, sagte der Vorsitzende. »Setzen Sie sich bitte.«
Der Vorsitzende stellte die
Weitere Kostenlose Bücher