Tabu: Roman (German Edition)
hatte dünne Haare und trug eine blau-rote Lesebrille an einer Kette um den Hals. Er ging mit der Mutter durch die Räume, manchmal blieb er stehen und zeigte auf etwas. Am Ende kaufte er das Silberbesteck, vier Miniaturen aus dem 18. Jahrhundert, drei Ölbilder in angeschlagenen Rahmen, die Gewehre und die Elefantenstoßzähne. Er würde alles abholen lassen, sagte er und schrieb einen Scheck aus.
Ein Entrümpelungsunternehmen stellte einen Container vor die Freitreppe. Eine Woche lang schleppten Männer fast alles aus dem Haus, der Container wurde jeden Tag zweimal geleert. Schon am Mittag rochen die Männer nach Schweiß, sie trugen nur Unterhemden. Als sie sich an die Umgebung gewöhnt hatten, brachten sie die Sachen nicht immer gleich in den Container. Sie zogen die afrikanischen Masken auf, johlten und warfen mit den Speeren auf die Bäume im Park.
Sebastian verstand nicht, was seine Mutter tat. »Entsorgen«, nannte sie es. Vaters Dias, seine Super-8-Filme, selbst seine Notizhefte kamen in den Container. Sie verbrannte Fotos und Briefe in einer Regentonne im Garten. Sie müsse »aufräumen«, sagte sie in diesen Tagen ständig, »Schluss machen, beenden«. Er hörte sie durch das Haus laufen, sie rief nach ihm, aber er antwortete nicht.
Sebastian saß jeden Tag auf der Treppe im Schatten des Hauses und wartete auf die Kühle des Abends. Dort, in die Mauern der kleinen Freitreppe, waren Reliefs aus Sandstein eingearbeitet, Dachse, Otter und Biber. Der Vater hatte gesagt, man müsse nur über die Nase des Otters streichen, wenn man das Haus verlasse, dann käme man immer wieder zurück.
Kurz vor Ende der Ferien kam ein Häusermakler. Auf seinem Auto stand: »Wir verbinden weltweit die Wünsche anspruchsvoller Menschen.« Der Makler stellte sich vor das Haus, rollte seine Hände wie ein Fernrohr und sagte: »Na ja, ziemlich heruntergekommen, aber schöne Lage. Wir können es vielleicht verkaufen.« Er machte viele Fotos. Später saßen die Mutter und der Makler draußen am Tisch unter den Kastanien. Sebastian hörte seine Mutter sagen: »Ach nur so wenig?«, und für einen Moment glaubte er, sie würden das Haus doch behalten.
Am Tag nach dem Maklerbesuch radelte Sebastian das erste Mal seit der Beerdigung zur Kirche. Am Tor der Friedhofsmauer stieg er vom Fahrrad und schob es über den Schotterweg. Er sah die Grabsteine seiner Vorfahren, auf jedem las er seinen eigenen Namen. Vor dem Grab seines Vaters blieb er stehen. Jemand hatte Blumen gepflanzt, die Gießkanne aus Blech stand noch dort. Er kniete sich hin und grub mit den Händen ein Loch. Oben war die Erde von der Sonne warm, aber als er tiefer grub, wurde sie kalt und nass. Er hatte die Nase des Otters mit einem Hammer aus der Fassade geschlagen. Er legte sie in die Erde. »Es ist besser, wenn du jetzt wiederkommst«, sagte er, »ich bekomme es alleine nicht hin.«
Am Ende der Ferien brachte ihn die Mutter nach München. Sie schimpfte auf den Wagen, er sei zu alt. Sobald das Haus verkauft wäre, würde sie einen neuen kaufen, sagte sie. Sie parkte auf dem Bahnhofsvorplatz. Es tue ihr leid, aber sie könne nicht mit auf den Bahnsteig kommen, sonst würde sie es nicht rechtzeitig zum Turnier schaffen. Sebastian stieg aus, küsste sie durch das offene Fenster und nahm seinen Koffer vom Rücksitz. »Wegen des Verkehrs kann sie nicht winken«, dachte er, als er ihr nachsah.
Er fand den Zug, setzte sich auf seinen reservierten Platz und sah aus dem Fenster. Er tastete in seiner Hosentasche nach dem Zigarettenetui des Vaters, mit dem Daumen fuhr er über den Jadestein. Er dachte an die Wand hinter dem Schreibtisch, sie war schon neu gestrichen worden. Als der Zug den Bahnhof verließ, legte er das Etui auf den Klapptisch vor sich. Der Stein glänzte in der Sonne, die Farbe war ruhig und gleichmäßig. »Imperial-Jade«, hatte der Vater sie einmal genannt. Das Etui stammte aus den Zwanzigerjahren, auf der Innenseite waren japanische Zeichen eingraviert. Sebastian hielt das Etui vor seine Augen. Manchmal fiel der Schatten eines Baums oder eines Leitungsmasten auf den Jadestein und veränderte seine Farbe.
Er sah das Haus vor sich, das dunkle Grün seiner Kindheit, die hellen Tage. Die Farben rochen nach dem Staub, der alles bedeckte, sie rochen wie das frisch gemähte Gras am Nachmittag und wie der Thymian nach dem Regen und wie das Schilf zwischen den Bohlen des Bootsstegs. Er dachte an die Seidenkleider seiner Mutter, die sie früher getragen hatte, an
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