Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tabu: Thriller

Tabu: Thriller

Titel: Tabu: Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Egeland
Vom Netzwerk:
kannst…«
    Er reichte ihr die Flasche. »Du bist doch so gut… mit so…«, er taumelte, »was… kannst du die für mich… recyceln?«
    Sie nahm ihm die Flasche ab. Stufe für Stufe schwankte er nach unten. Er blickte sich nicht um.
    »Gunnar!«, rief sie ihm ein letztes Mal nach.
    Sie schloss die Tür auf und trat in ihrer Wohnung ans Fenster. Nach einer Weile sah sie ihn. Mit kurzen, unsicheren Schritten schlurfte er über den Bürgersteig der leeren Straße. Ein alter Mann, dachte sie.
    Als er im Schatten des Parks verschwunden war, blieb sie stehen und starrte in die Nacht. Auf die dunklen Fenster der Häuser in der Straße, die Silhouette des Turms der Pauluskirche und die Taxis, die die Toftes Gate entlangrasten. Und in den Himmel, an dem weder Wolken noch Sterne zu erkennen waren, nur die Leere der Unendlichkeit.
    Jetzt bin ich müde, dachte sie. Müde und traurig und wohl auch ein bisschen angetrunken.
    Sie ging ins Bad und zog sich aus. Dann schminkte sie sich ab und putzte die Zähne. Sie überlegte kurz, ob sie eine Dusche nehmen sollte, konnte sich aber nicht dazu aufraffen. Sie kroch in das große Bett und dachte vor dem Einschlafen: Ich sollte stolz und glücklich sein. Warum bin ich nicht stolz und glücklich?
    Dann schlief sie ein.

Dritter Teil



I
    Die Schafe auf dem Grashang unterhalb der Almhütte blökten aufgeregt, als Kristin aus dem Laubwald gestapft kam, der die Berglehne bis zum Dorf hinunter bedeckte. Sie blieb stehen, pflückte einen Grashalm und schob ihn zwischen die Zähne. Von hier unten sah Bø wie ein verwunschener Königshof in einem Märchen aus, eingerahmt von Felsblöcken und Gestrüpp. Ein süßes Gefühl des Wiedererkennens durchrieselte sie. Hier hatte ihr Traum seinen Ursprung; an dieser Stelle, wo der Waldpfad auf die Wiese mündete. Dahinter, einen halben Tagesmarsch entfernt in dem Fichtenwald, der von Schluchten und Bergkuppen zernarbt war, thronte grau und gewaltig der große Felsen.
    Bedächtig, genüsslich, atmete sie den Duft von Berg und Sumpf und Dickicht ein.
    Sie hatte einen schweren Rucksack und einen Koffer dabei. Obgleich sie die Windjacke und den Pullover ausgezogen hatte, war sie völlig nass geschwitzt. Halvor hatte ihr angeboten, ihr mit dem Gepäck zu helfen, aber sie hatte abgelehnt. Diese erste Etappe wollte sie alleine zurücklegen.
    Um das Haus wiegten Weidenröschen und Lupinen in dem sanften Wind. Fliegen surrten. Großvaters alter Schleifstein lag umgekippt in einem Brennnesselflecken vor der Scheunenwand. Sie fühlte sich um zwanzig Jahre zurückversetzt. Es hätte sie nicht gewundert, ihren Großvater um die Ecke humpeln zu sehen und ihr fröhlich zurufen zu hören: »Da bist du ja endlich, mein Mädchen!« Oder Vater und Mutter hinterm Küchenfenster zu sehen, wie sie ihr zuwinkten. Eine Taube gurrte. Sie spuckte den Halm aus, lächelte vor sich hin und sagte leise: »Willkommen, Kristin!«
     
    Die Fensterläden waren geschlossen. Sie machte eine Runde um das Haus, schloss die Vorhängeschlösser auf und befestigte die Läden mit Haken an der Wand.
    Sie schloss die Eingangstür mit dem Schlüssel auf, den ihr Großvater vor dem Krieg geschmiedet hatte. Er lag in einer Plastiktüte unter einem Stein bei der Fahnenstange. Sie öffnete die schwere Tür und trat ein.
    Der Geruch von Bø war unverwechselbar. Hinter der Türschwelle blieb sie stehen und schnupperte. Es roch nach altem Holz und Kindheit, nach Teer und abgestandener Luft, es duftete nach Sommer, nach einer Zeit, die stillstand.
    Sie stellte den Rucksack im Flur ab und ließ die Tür offen stehen.
    Die Sonne fiel durch die kleinen Sprossenfenster in die Stube. Ihr Blick glitt über die Einrichtung: die Schlafbank, den robusten Tisch aus Kiefernholz, an dem sie ihre Mahlzeiten zusammen eingenommen hatten, die alte Standuhr, den buckligen Spiegel an der schmalen Wand, die Öllampen unter der Decke und an den Wänden, die Regale mit den uralten Zeitschriften und Readers-Digest-Heften.
    Sie ging durch die Stube zu der alten Standuhr. Der Boden knarrte. Sie öffnete die Holztür und zog die beiden Gewichte bis zum Anschlag nach oben. Dann stieß sie mit dem Zeigefinger das Pendel an.
    Das Ticken war gleichmäßig. Wie Herzschläge, dachte sie.
    Sie öffnete die Glasscheibe vor dem Zifferblatt und stellte die Uhr: zehn vor zwei. Das Uhrwerk ging pro Tag etwa zehn bis fünfzehn Minuten nach, aber man hatte zumindest einen ungefähren Richtwert. Zeit war hier oben auf Bø nicht so

Weitere Kostenlose Bücher