Tabu: Thriller
Dann schaute er aufs Datum. Er traute seinen Augen nicht. Mein Gott. Er war drei Tage lang im Vollrausch gewesen.
Er rieb sich die Augen und versuchte, sich zu erinnern. Die letzten Tage waren ausradiert.
Alles, woran er sich erinnern konnte, war der Tag, an dem es ihn aus der Kurve geschleudert hatte. Rune Strøms Festnahme. Das unwirkliche, stolze Gefühl, Kristin im Fokus aller Kameras zu sehen. Kristin, die ihn in der Menschenmenge vor dem Gerichtsgebäude gar nicht bemerkt hatte. Das hektische Treiben in der Redaktionszentrale. Er hatte versucht, seine Dienste anzubieten. Er hatte dem Reportageleiter eine Story hinter den Kulissen vorgeschlagen, war aber mit den Worten abgewimmelt worden: Kommen Sie an einem anderen Tag wieder . Gunnar hatte sich wie ein alter Mann gefühlt, der allen im Weg stand. Danach war er zum Redaktionsleiter gegangen und hatte vorgeschlagen, einen Kommentar zu schreiben – einen kurzen -, aber das hatte der Chefredakteur bereits selbst erledigt.
… wie ein alter Mann, der allen im Weg stand …
Gunnar war in sein enges Büro gegangen und hatte die Tür hinter sich zugemacht. Er hatte lange mit der Stirn an die Fensterscheibe gelehnt dagestanden und in den Hinterhof gestarrt. Dann war er zu dem Regal gegangen. Hinter Band acht und neun der Großen Norwegischen Enzyklopädie stand eine ungeöffnete Flasche Branntwein. Bereits seit zwei Jahren. Sie hatte da nur zur Sicherheit gestanden. Und als Beweis.
Er hatte das Gefühl, neben sich zu stehen, als er die verstaubte Flasche nahm, sich den Mantel anzog und sie in die Innentasche steckte.
Er ging durch die Redaktionszentrale nach draußen. Normalerweise nahm er einen anderen Weg, aber er hoffte, von jemandem zurückgehalten zu werden: He, Gunnar, kannst du das noch mal kurz nachprüfen, bevor du gehst?
Wie ein Geist schlich er durch die geschäftige Redaktionszentrale und hinterließ einzig einen kalten Hauch. Ein Geist auf der Suche nach seinem Grab, dachte er.
Draußen, auf einer halb von einem Busch verdeckten Bank, hatte er die Flasche geöffnet.
Was war danach geschehen? Er erinnerte sich nur noch bruchstückhaft. War nicht mehr ganz sicher, was Realität oder Fantasie war. Der Besuch bei Kristin – die kleine Ewigkeit, die er schlafend vor ihrer Tür verbracht hatte, und die beängstigenden Sekunden, als ihr klar wurde, dass er betrunken war. Blasse Schattenbilder, die ebenso gut ein Traum sein konnten.
Er kämpfte sich vom Sofa hoch, schwankte ins Bad und klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Dann beugte er sich über die Kloschüssel und erbrach sich, spülte den Mund aus und nahm drei Paracetamol aus dem Badschrank, die er schnell schluckte.
Mit mechanischer Effektivität räumte er den Wohnzimmertisch ab, leerte den Aschenbecher auf der Tischdecke aus und warf die Flaschenverschlüsse dazu. Dann packte er das Tuch an den vier Ecken, knotete es zusammen und stopfte das Ganze in den Mülleimer.
Den restlichen Cognac goss er in die Spüle.
Die ganze Zeit zitterten seine Hände wie verrückt. Sein Kopf dröhnte und fühlte sich wie ein Fremdkörper an.
Er räumte das Wohnzimmer auf und putzte, er befreite den Kühlschrank von alten Essenresten, übergab sich noch zweimal, machte das Bett und goss die Blumen. Dabei vermied er es, in den Spiegel zu sehen. Er lüftete und schlief schließlich auf dem Sofa ein.
Wieder war es das Telefon, das ihn weckte. Im Halbschlaf torkelte er auf den Flur zu dem wimmernden Ungeheuer.
Es war Kristin.
Er war schlagartig wach.
Es war schon beschämend genug, dass er rückfällig geworden war, doch noch unerträglicher war es, diese Niederlage mit ihr teilen zu müssen.
Er antwortete kurz angebunden und abweisend. Versicherte ihr, nüchtern zu sein. Er ertrug jetzt kein Mitleid. Nicht heute. Wollte mit niemandem reden. Heute wollte er in Ruhe gelassen werden und alleine sein.
Kristin teilte ihm mit, dass sie in Bø war.
»In Bø?«, rief er. »Was machst du dort?«
»Ich schreibe ein Buch.«
»Ein Buch?«
»Über den Fall. Vorgestern kam das Angebot. Ich habe versucht, dich zu erreichen.«
»Ich hatte ziemlich viel zu tun.«
»Das wird ein richtiges Buch«, wiederholte sie. »Ist das nicht super?«
»Ja, super«, sagte er. »Freut mich.«
»Bist du wirklich nüchtern?«, fragte sie. Scharf.
»Ja«, antwortete er. Genauso scharf.
Sie zögerte kurz, und ihre Stimme war brüchig, als sie sagte, dass sie sich am nächsten Tag noch mal melden wollte.
Er sagte nichts darauf.
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