Tabu: Thriller
durchblätterte. Die Öllampen gaben ein warmes, weiches Licht ab.
In der ersten Nacht schrieb sie bis um zwei Uhr morgens. Nichts störte sie. Sie hatte ein klares Konzept im Kopf, und im Grunde wurde sie nur durch die Macken der Schreibmaschine gebremst. Das Manuskript war kein Meisterwerk, aber jetzt ging es erst einmal darum, ihre Gedanken und Worte in einer einigermaßen akzeptablen Reihenfolge zu Papier zu bringen. Danach würde sie das Ganze ohnehin noch mehrmals umschreiben. Sie hatte noch reichlich Recherchen vor sich, und es standen auch noch jede Menge Interviews aus, aber sie hatte keine Eile. Der Verlag wollte das Buch an dem Tag auf den Markt werfen, an dem Rune Strøm verurteilt wurde, und es würde wahrscheinlich Monate dauern, bis der Fall vor Gericht kam. Das Wichtigste war, ihre Eindrücke und Empfindungen festzuhalten, ehe sie verblassten. Die Details würden mit der Zeit verwischen, wie die Angst, die Unruhe und die Erleichterung, als Rune Strøm in den Polizeiwagen geleitet wurde und der Albtraum endlich ein Ende hatte.
Sie schob die Beine unter den Tisch, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und streckte sich. Ihre Fingerkuppen und die Unterarme schmerzten von der ungewohnten Schreibhaltung.
Der Fußboden knarrte, als sie zu dem alten Spiegel ging. Ihr Spiegelbild war platt und verzerrt, und ein Fleck auf dem Glas ließ es so aussehen, als hätte sie einen Knutschfleck am Hals. Wenn dem doch nur so wäre! Mit einem kindischen Grinsen streckte sie sich die Zunge raus, und ihre Zunge traf auf eine Krümmung, die sie doppelt so lang erscheinen ließ. Kristin, das Chamäleon! Sie kicherte und versuchte, den gleichen Punkt noch einmal wiederzufinden, aber es gelang ihr nicht. Zwischendurch fragte sie sich, ob der Spiegel vielleicht wirklich verhext war.
Draußen war es stockdunkel. Sie musste noch mal aufs Plumpsklo, bevor sie ins Bett ging, weshalb sie sich eine Taschenlampe schnappte und nach draußen ging. Inzwischen war der Nachthimmel übersät von weißen Sternenpunkten. Als Kind hatte sie Angst gehabt, im Dunkeln auf das Klo zu gehen. Eigentlich fühlte sie sich heute nicht viel anders. Es war weniger die Befürchtung, dass dort eine Gefahr auf sie lauerte, sondern eher eine undefinierbare Angst vor der Dunkelheit, die so gewaltig war, dass sie sich bis tief in den Weltraum erstreckte.
Aus alter Gewohnheit verschloss sie die Klotür von innen mit dem Haken.
Sie leuchtete mit der Taschenlampe über die Wände mit dem vergilbten Porträt von König Olav, den großbusigen Frauen, die Halvor dort angepinnt hatte, den Bleistiftzeichnungen und den Spinnweben.
Danach lief sie eilig zurück ins Haus, und als sie sich beim Abschließen fest mit der Schulter gegen die Tür lehnte, musste sie über sich selber lächeln.
Sie löschte die Öllampen und kletterte rasch über die schmale Treppe nach oben. Sie öffnete das kleine Fenster in dem Kämmerchen, schüttelte die Decke auf, zog sich aus und kroch ins Bett.
Sie zitterte. Jetzt jemand, der einen wärmen könnte, dachte sie träumerisch. Das letzte Mal war ziemlich lange her.
Sie fummelte an dem Transistorradio herum, bis sie endlich einen Sender gefunden hatte und Nachrichten hören konnte. Nichts Neues.
Sie schaltete das Radio und die Taschenlampe aus und sagte leise: »Gute Nacht!« Mit einem Gähnen zog sie die dünne, raue Decke über sich.
Der Tag danach
I
Gunnar Borg wurde langsam wach.
Weit, weit weg klingelte etwas. Er bekam nicht auf die Reihe, wo er war oder was nicht stimmte. Nur, dass etwas Krach machte und klingelte und ihn aus seinem tiefen, dunklen Schlaf gerissen hatte. Er versuchte, die Augen zu öffnen. Das Klingeln war infernalisch, das Geräusch kratzte an einem Nerv, der von den Ohren über den Nacken verlief. Das war das Telefon! Natürlich. Er stöhnte. Bei dem Gedanken, sich aus dem Bett zu wälzen und in den Flur zu kriechen, um zu antworten, wurde ihm schwindelig. Sein Mund war trocken. Die Zunge klebte am Gaumen. Er hatte den Geschmack von vergammeltem Fleisch, fauligen Zwiebeln und altem Kohl im Mund. Das Stechen in seinem Kopf wanderte über die Schläfen und um beide Augen herum. Ihm war schlecht. Seine Hände zitterten.
Endlich verstummte das Schrillen.
Er blinzelte und stöhnte. Er lag auf dem Sofa. Im Wohnzimmer. Auf dem Wohnzimmertisch ein umgekipptes Glas. Die Flasche mit dem guten Cognac war fast leer. Eine Zigarette hatte ein Loch in die Tischdecke gebrannt.
Er sah auf die Uhr. Halb elf.
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