Tabu: Thriller
längst eingeknickt, umnebelt vor Todesangst.
Er hat dem Tod nie direkt ins Auge geblickt. Ihm hat nie jemand einen Pistolenlauf in den Bauch gedrückt, kein Desperado hat ihm je mit einem Messer vor der Nase rumgefuchtelt. Er kann nicht sagen, wie er reagieren würde. Aber er ist sicher, dass er nicht so unberührt wäre wie Kristin Bye.
Er ist seit über dreißig Jahren vom Tod umgeben, aber nie persönlich betroffen gewesen. Er hat den Schrecken in den leblosen Augen gesehen. Der Tod kommt immer überraschend, denkt er. Selbst wenn man ihn fürchtet und weiß, dass er auf einen lauert. Wirklich vorbereitet ist man nie.
Er schaut durch das Fernglas zu Kristin Bye.
Arme Frau!
15 Uhr 25
»Ich möchte, dass du mich interviewst«, sagt er in ihr Ohr.
Jetzt ist er übergeschnappt, denkt sie. Ihn interviewen? Hier? Jetzt? Glaubt er, wir wären in einem Fernsehstudio?
»Das geht nicht!«
»Ich habe einen Kameramann gesehen«, fährt er fort, seine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern. »Er soll hierher kommen, damit du mich interviewen kannst.«
Es ist ihm ernst, dachte sie. Tatsächlich! Er will, dass ich ihn interviewe.
»Warum?«, fragt sie.
»Frag nicht. Tu einfach, was ich sage.«
Er bewegt seinen Kopf ein Stück weg von ihrem und ruft den Polizisten zu, dass er mit jemandem reden will. Nach einer Weile kommt ein hoch gewachsener, kräftiger Polizist mit Oberlippenbart und Igelschnitt zu ihnen. Er trägt einen durchsichtigen Schild vor sich her und bleibt am oberen Ende der Treppe stehen.
Kristin hört ein Glucksen in ihrem Ohr. »Ist der Schild auch schusssicher?«, ruft er.
Der Polizist reckt sich hinter dem Schild. »Sie wollten reden?«
»Der Kameramann vom Fernsehen soll kommen.«
»Kommt nicht infrage.«
»Sofort!«
»Unmöglich! Die Situation ist so schon ernst genug…«
»Er soll uns filmen. Wenn sie mich interviewt. Holen Sie ihn!«
»Begreifen Sie doch, dass wir nicht riskieren können…«
»Ich werde ihn nicht umbringen! Er kann dort oben stehen. Hinter dem Baum.«
»Ich verstehe nicht, wieso…«
»Sie müssen das auch nicht verstehen!«
»Wir können nicht riskieren…«
»Sie riskieren überhaupt nichts. Beschützen Sie ihn mit so vielen Polizisten, wie Sie wollen! Hauptsache, er filmt.«
»Das geht nicht…«
»Wenn Sie den Kameramann nicht holen, erschieße ich Kristin.«
»Hören Sie, welche Chancen rechnen Sie sich aus, wenn Sie sie töten?«
Zuerst sagt er nichts. Dann fängt er an zu lachen. Ein leises, glucksendes Lachen, das ihr im Ohr kitzelt.
»Es geht hier nicht um mein Leben«, sagt er. »Sondern um ihrs. Also holen Sie ihn! Ich gebe Ihnen zehn Sekunden.«
»Hören Sie doch…«
»Oder ich knall sie ab.«
»Lassen Sie uns darüber reden…«
»Zehn!«
»Halt! Ich kann nicht akzeptieren…«
»Neun!«
»…auf diese Weise…«
»Acht!«
»…erpresst zu werden…«
»Sieben!«
»Also wirklich! Warten Sie!«
»Sechs!«
»Halt! Lassen Sie uns darüber reden!«
»Fünf!«
»Lassen Sie uns reden, sage ich!«
»Vier!«
»Hören Sie mir nicht zu? Lassen Sie uns…«
»Drei!«
»…darüber reden!«
»Zwei!«
»Okay! Okay!«
»Sind wir uns plötzlich einig?«
»Ich werde ihn holen! Entspannen Sie sich, ganz ruhig!«
Der Polizist zieht sich zurück.
Eine Viertelstunde später kommt Roffern. Umringt von fünf bewaffneten Männern der Einsatztruppe.
Kristin lächelt, als sie ihn sieht. Sie haben ihn in eine Uniform gesteckt. Über der Uniform trägt er eine schusssichere Weste. Er sieht aus wie der Soldat einer Kommandotruppe. Mit Pferdeschwanz und Ring im Ohr.
Für einen kurzen Augenblick haben sie Blickkontakt.
Sie platzieren ihn hinter einem Baum. Nur die Schulter mit der Kamera ragt hervor.
Ein Polizist mit Schild kommt die Treppe runter und wirft ihnen ein kabelloses Mikrofon zu.
Sie macht einen Soundcheck. »Test, eins, zwei, drei! Hörst du mich, Roffern?«
Eine Hand kommt hinter dem Baumstamm vor und winkt.
Die Stimme in ihrem Ohr.
»Kennst du ihn?«
»Wir arbeiten zusammen.«
»Ach.«
»Worüber sollen wir reden?«
»Frag mich nicht! Du bist die Journalistin.«
»Eine Sache nur…«
»Ja?«
»Es ist schwierig, jemanden zu interviewen, der hinter einem steht.«
»Soll ich mich woanders hinstellen?«
»Am besten vor mich. Damit ich das Mikrofon zwischen Ihnen und mir hin und her bewegen kann.«
»Du führst doch was im Schilde…«
»Entspannen Sie sich! So werden Interviews geführt. Oder haben Sie jemals ein
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