Tag der Buße
die Augen weit offen.
Noam wußte, daß er Pläne schmiedete.
Reiß dich zusammen.
Hersh und seine Pläne – seine teuflischen Pläne. Noam haßte diese Pläne, ja, er haßte sie ganz einfach. Aber nach allem, was geschehen war, war er nicht in der Lage gewesen, einen eigenen Plan zu fassen. Er war Hersh einfach nur wie betäubt gefolgt. Irgendwie hatte der es geschafft, sie zum richtigen Bus zu führen, und im Bus hatte sie niemand sonderlich beachtet.
Alle, die mit dem Bus fuhren, waren offenbar genauso kaputte Typen wie er. Leute, die ihre Habseligkeiten in Plastiktüten statt in Koffern bei sich hatten. Leute, die aussahen, als hätten sie länger nicht mehr gebadet. Eine Frau hatte das Gesicht voller Akne. Sie hatte zottige rote Haare und Zeitungspapier um die Füße gewickelt. Außerdem ein dicker Mann, der fast zwei Sitzplätze eingenommen hatte. Und zwei dürre schwarze Jugendliche mit verfilzten Locken auf dem Kopf. Ihre Augen waren richtig bösartig, und sie fingen an zu flüstern, sobald er und Hersh in den Bus stiegen. Aber Hersh hatte so lange zurückgestarrt, bis sie aufgaben. Niemand konnte böser gucken als Hersh. Nur wenige Sekunden später hatten die beiden schwarzen Typen sich in ihre Sitze gefläzt und sie für den Rest der Fahrt nicht mehr beachtet.
Im Bus war also keine Gelegenheit gewesen, richtig miteinander zu reden. Aber jetzt campten sie beide für den Rest der Nacht allein im Freien, und immer noch redeten sie nicht darüber.
Aber was gab es schon zu reden?
Noam wußte, daß seine Stunden gezählt waren. Nach dem, was er während der letzten Tage erlebt hatte, nach dem, was er gerade getan hatte, wußte er, daß er auf Erden nicht mehr erlöst werden konnte, nicht mal durch Jom Kippur.
Der Boden war hart. Die kühle Nachtluft roch nach Industrieabgasen. Von dem Gestank dröhnte Noam der Kopf, und jedes Mal durchzuckte ein stechender Schmerz seine Augen, wenn sein Hirn gegen die Schädeldecke hämmerte. Sein ganzer Körper schmerzte. Seine Rippen taten höllisch weh, die Unterlippe war geschwollen, und mit seiner Magensäure hätte man eine ganze Autobatterie füllen können. Obwohl er eine warme Wolljacke anhatte, zitterte er manchmal so stark, daß seine Knie gegeneinander schlugen. Er richtete sich auf, lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Betonpfeiler, steckte die Hände in die Taschen und rollte sich zu einer Kugel zusammen. Beide waren wach, beide wagten nicht zu schlafen, weil sie fürchteten, daß der andere etwas im Schilde führen könnte.
Zwischen ihnen bestand nur noch tödliches Mißtrauen.
Es war fast drei Uhr morgens. Die Uhr, die Abba ihm zur Bar Mitzwa geschenkt hatte, ging absolut genau. Noam war so sauer gewesen, daß Abba selbst bei so einem Anlaß wie der Bar Mitzwa zu geizig gewesen war, ihm die Uhr zu kaufen, die er sich so sehnlichst gewünscht hatte. Doch jetzt hing Noam daran, als ob es das einzige wäre, was ihn noch mit seiner Vergangenheit verband.
Seine eigene Sicherheit kümmerte ihn nicht mehr, weil er wußte, daß es nur eine Frage der Zeit war, bis etwas geschah, das nicht mehr rückgängig zu machen war. Das einzige, was ihm Trost gab, war Teschuwah – Umkehr. Nach dem letzten furchtbaren Ereignis hatte Noam im Stillen gebetet. Er hatte Haschem um Verzeihung gebeten für all das Böse, das er getan hatte. Er wußte, daß es in diesem Leben für ihn zu spät war. Selbst wenn er wieder mit seiner Familie vereint sein sollte, könnte er nichts tun, um die furchtbaren Dinge, die er getan hatte, wiedergutzumachen. Für ihn würde nie mehr etwas gut werden. Aber so sollte es auch sein. Er hatte nichts Gutes verdient.
Aber er hoffte, daß er sich Haschems Vergebung würdig erweisen würde. Wenn seine Reue aufrichtig war, wenn er Gott all seine Sünden bekannte, vielleicht könnte er dann in der nächsten Welt ein kleines Stück Erlösung finden.
Er mußte leiden. Das war die einzige Möglichkeit, Vergebung zu erlangen.
Bete, ermahnte er sich. Versuche, dich vom Übel zu erlösen, du wertlose Seele.
Immer wieder lenkten ihn Gedanken an seine Familie ab. Das einzig Gute daran war, daß die Bilder von ihren Gesichtern ihn noch mehr leiden ließen. Als Noam schließlich aufblickte, waren seine Augen tränenüberströmt. Der Himmel war mondlos und von einem unheimlichen Grau, das nur von ein paar Straßenlaternen und einigen hellen Wolken durchbrochen wurde. Irgendwas schien ihn nach oben zu winken, unsichtbare Arme, die nur darauf warteten, daß
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