Tag der Buße
geht es Noam?« fragte Decker schließlich.
Frieda biß sich auf den Daumennagel. Ihre Lippe fing an zu zittern. Was war nur aus dem pummeligen kleinen Baby geworden, das mit einem lustigen Grinsen im Gesicht in seiner Wiege gestrampelt hatte? Ihr hübscher Enkel mit den sanften großen Augen. Lieber Gott, wo war der nur geblieben? Vor neun Tagen war ein aufmüpfiger Teenager verschwunden. Zurückgekommen war eine gebrochene Seele, die Höllenqualen litt. Ein Junge, der in einem Strudel von Schmerz ertrank. Was auch immer er getan hatte, er sollte nicht so schrecklich leiden müssen – nicht in seinem Alter.
Das Schlimmste war, daß Noam jede Art von Trost ablehnte. Er verschloß seine Ohren vor allen tröstenden Worten und schrie immer nur, daß er sein Schicksal verdient hätte.
Alle fühlten sich so hilflos und warteten darauf, daß er endlich zugänglicher würde.
»Es geht ihm sehr schlecht, Akiva«, sagte Frieda. »Ezra gibt normalerweise nie zu, daß es ein Problem gibt, aber er war so schockiert über Noam, daß er Yonasan sofort gebeten hat, für ihn einen Psychiater zu suchen. Selbst Ezra mußte erkennen, daß der Junge zutiefst gestört ist.«
»Rina hat mir erzählt, daß er ziemlich verstört ist«, sagte Decker. »Ich bin froh, daß er zu einem Psychiater geht.«
Frieda schüttelte den Kopf. »Noam weigert sich hinzugehen. Er weigert sich auch, zu Hause zu wohnen, weil er meint, daß er keine Familie verdient hat. Zur Zeit lebt er in der Bejss Midrasch im Keller der Schul. Das ist ein Kompromiß. Ezra und Breina waren damit einverstanden, weil sie nicht wußten, was sie sonst hätten tun sollen. Noam wollte noch nicht mal ins Haus kommen. Also haben die Rabbis gesagt, er könnte als Gabba, als Helfer, im Keller wohnen. Wir alle glauben, daß er in der Bejss Midrasch zumindest sicher ist.«
Sie seufzte tief.
»Morgens arbeitet er ein bißchen. Er kehrt und ordnet die Gebetbücher. Breina besucht ihn und bringt ihm was zu essen. Aber er will nicht mit ihr reden. Wenn er nicht arbeitet, verhält er sich so, als ob er in Trauer wäre. Er trägt zerrissene Sachen und sitzt vor dem Torah-Schrein auf dem Boden und tut Teschuwah. Er ißt nichts und trinkt nur ein bißchen Wasser, das er mit Backpulver bitter macht. Er schreit und sagt, niemand solle Mitleid mit ihm haben, er habe sich das alles selbst zuzuschreiben. Er will nicht mit seinen Eltern reden und auch nicht mit den Rabbis. Es ist herzzerreißend.«
»Vielleicht hat Noam das Gefühl, daß nur Gott ihm vergeben kann«, sagte Decker.»Hat er denn so furchtbare Sünden begangen?« fragte Frieda.
Decker zögerte einen Augenblick. »Ich weiß es wirklich nicht, Mrs. Levine.«
Aber er hatte so seine Vermutungen. Vielleicht war Noam ja nur Zeuge gewesen, aber es konnte genausogut anders gewesen sein. Das erste Opfer erinnerte sich, daß der maskierte Junge ihm eine Waffe in den Bauch gerammt und abgedrückt hatte. Aber es waren keine Kugeln herausgekommen. Das Mordopfer hatte zwei Austrittswunden von Kugeln im Rücken gehabt. Man hatte sie zunächst nicht bemerkt, weil das Opfer ausgenommen worden war, aber bei der Autopsie waren sie zum Vorschein gekommen. Es war allerdings denkbar, daß Hersh das zweite Opfer erschossen und dann zerlegt hatte. Decker wollte glauben, daß es so gewesen war. Das war Vergangenheit. Was spielte es überhaupt für eine Rolle?
Außer daß Noam die Wahrheit kannte. Und jetzt schrie er, daß er sein Schicksal verdient hätte und für seine furchtbaren Verbrechen leiden müßte. In mancher Hinsicht wäre es vielleicht besser gewesen, wenn man Noam unter Anklage gestellt hätte. Strafe hatte eine reinigende Wirkung. Aber Noam war freigelassen worden, weil es keine konkreten Beweise gab, daß er an den Verbrechen beteiligt gewesen war.
Bis auf eine Skimaske, die jetzt unter Tonnen von Abfall auf einer Müllkippe in L. A. begraben lag.
Trotzdem hielt Decker seine Entscheidung immer noch für richtig. Er war zutiefst davon überzeugt, daß Noams Reue echt war. Ganz bestimmt würde er so etwas nie wieder tun. Wenn Gott denen vergab, die Teschuwah übten, wie konnte er da strenger sein?
Frieda schüttelte traurig den Kopf. »Ezra wollte immer, daß Noam religiöser wäre … aber nicht auf diese Weise. Nicht wegen eines schweren Herzens. Es ist so schmerzlich für uns alle, aber wir können nichts dagegen tun. Morgen ist Jom Kippur. Haschem hat uns diesen Tag der Versöhnung gegeben, damit wir alle unsere Sünden bereuen
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