Tag der Buße
geschützten Stellen zusammen, traten von einem Fuß auf den anderen und rieben fingerlose Handschuhe gegeneinander. Wie Kakerlaken drückten sie sich tiefer in ihre Ecken, wenn zu viele Scheinwerfer sie anleuchteten. In den Seitenstraßen kampierten Obdachlose, die ihre Hände über Feuern in eisernen Tonnen wärmten.
Wie so oft versuchte Decker sich körperlich und seelisch in den Gesuchten hineinzuversetzen. Diesmal handelte es sich um einen vierzehnjährigen Jungen aus einer ultrareligiösen Familie. Wenn Noam tatsächlich ausgerissen war, dann wohl vor allem deshalb, weil er was erleben wollte. In einer so stark reglementierten Gemeinschaft wie Boro Park stellten die irdischen Sünden eine große Verlockung dar.
Aber es steckte noch mehr dahinter. Die Gespräche mit den Angehörigen hatten ein Bild von einem zornigen, orientierungslosen Jungen ergeben. Indem er weglief, versuchte Noam sich selbst zu finden. Und er betonte seinen Bruch mit der Gemeinschaft noch dadurch, daß er ausgerechnet an Rosch ha-Schana verschwand. Ein Akt des Trotzes und der Feindseligkeit.
Noam war zwar groß und kräftig und mochte in Boro Park als harter Bursche gelten, aber er kannte das rauhe Leben auf den Straßen nicht und würde es nicht lange durchhalten. Wenn er nicht rechtzeitig nach Hause kam, würde er irgendwann etwas Dummes tun, zum Beispiel ein kleineres Verbrechen wie Ladendiebstahl begehen und dabei erwischt werden. Diese Tat hätte dann einen doppelten Zweck. Sie würde ihm Schutz geben – auf einem Polizeirevier zu sitzen war immer noch sicherer als in einer finsteren Gasse überfallen zu werden –, und außerdem würde man im Falle einer Verhaftung seine Eltern verständigen.
Ausgerechnet an Rosch ha-Schana wegzulaufen. Das war schon ein harter Schlag ins Gesicht der Eltern. Schlimmer wäre es nur noch am Versöhnungstag gewesen, an Jom Kippur. Alle Sünden gegen Gott und die Menschen wurden an diesem höchsten jüdischen Feiertag vergeben. Die Seele wird von allem Schmutz gereinigt – aber nur, wenn echte Reue empfunden wird.
Vielleicht hoffte Noam, an Jom Kippur zurück zu sein, um zu bereuen. Man mußte ihn nur finden, bevor er sich selbst zugrunde richtete oder von jemand anders zugrunde gerichtet wurde.
Je weiter Decker nach Norden fuhr, um so heruntergekommener wurde die Gegend. Das war kein Ort, wo ein weißer Jugendlicher Zuflucht suchen würde.
Er fuhr an den Straßenrand und breitete die Karte auf dem Beifahrersitz aus, um sich eine Route zurechtzulegen. Kurz darauf hörte er, wie heftig gegen die Tür auf seiner Seite geklopft wurde. Er fuhr mit dem Kopf hoch und sah drei dunkelhäutige Jugendliche, von denen einer nur mit Mundbewegungen die Frage »Brauchen Sie Hilfe?« durch das geschlossene Fenster stellte. Decker zog seine Beretta und legte sie auf seinen Schoß. Er zwinkerte lächelnd und gab ein fast ebenso lautloses »Nein, danke« zurück. Der junge Mann hob beschwichtigend die Hände, dann verschwanden alle drei wieder in der Dunkelheit.
Decker saß einen Augenblick lang einfach nur da und zündete sich eine Zigarette an. So einen Scheiß in seinen Flitterwochen machen zu müssen und dadurch auch noch immer mehr in die Familie Levine hineingezogen zu werden – ein fürchterlicher Schlamassel! Er schob sich die ungeladene Beretta in den Hosenbund, startete den Wagen und fuhr nach Süden.
Nachdem er ein paarmal abgebogen war, befand er sich in einer etwas freundlicheren Gegend. Nicht daß sie besonders schön gewesen wäre – nach L. A.-Maßstäben wäre es immer noch ein eher ärmliches Viertel –, aber zumindest standen von den Häusern nicht nur die Außenwände.
Weiße Arbeiterklasse.
Vermutlich die einfachen Italiener.
Es wurde Zeit, etwas Konkretes zu unternehmen.
Auf dem Ocean Parkway fand er den ersten Laden von seiner Liste: SID’S ARCADE – MINDERJÄHRIGE WILLKOMMEN. Hier könnte er genausogut anfangen wie irgendwo anders. Er parkte Jonathans Matador, streckte sich und ging zu der Spielhalle. An der Tür hing ein Schild, auf dem stand, daß drinnen Rauchen, Essen und Trinken verboten war.
Er ging hinein.
In der Spielhalle war es dunkel, und es dauerte einen Moment, bis Deckers Augen sich daran gewöhnt hatten. Doch seine Ohren kriegten sofort den vollen Lärm ab. Rattern, Klingeln, Tuten, Kreischen, Pfeifen, dumpfes Dröhnen – eine von Bits und Bytes geschaffene Kakophonie. Als sich seine Pupillen genügend geweitet hatten, sah er sich von grellbunt zuckenden
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