Tag der Buße
schwieg.
»So wie ich über Noam geredet hab«, sagte Aaron, »das hörte sich an, als ob’s mir egal wär. Ist es aber nicht.«
»Natürlich nicht.« Decker legte eine Hand auf Aarons Schulter. »Ich weiß, daß du ihn gern hast, daß ihr ihn beide gern habt.«
Aaron seufzte. »Er ist schließlich mein Bruder …«
»Werden Sie ihn finden?« fragte Boruch.
»Ich tue mein Bestes«, sagte Decker, hatte aber ein mulmiges Gefühl im Bauch, als er die Worte aussprach.
Er brachte die beiden Jungen zurück und ging dann noch bei den Lazarus’ vorbei, um seine Waffe zu holen.
Die Sonne ging gerade unter. Obwohl er sich in Brooklyn nicht auskannte, wußte er, daß es ein paar üble Gegenden gab. Er hatte zwar nicht vor, in irgendwelchen Ghettos nach Noam zu suchen, aber es bestand ja auch die Möglichkeit, daß er sich verirrte. Deshalb hatte er vier Magazine für seine Beretta mitgenommen, sechzehn Schuß pro Stück. Das sollte wohl reichen.
10
Als erstes mußte er sich einen guten Stadtplan besorgen.
Obwohl auf den Bürgersteigen von Boro Park viele Juden unterwegs waren, die gerade aus der Synagoge kamen, waren die Straßen fast leer. Es fuhren nur wenige Autos, und alle Geschäfte waren über die Feiertage geschlossen. Decker nahm seine Jarmulke ab, legte das Foto von Noam Levine auf den Beifahrersitz und fuhr los, um erst mal nach einer Tankstelle zu suchen, die offen war.
Er fand eine, etwa eine halbe Meile die Straße hinunter, tankte voll – Jonathan hatte den Wagen völlig leer gefahren – und kaufte für zwei Dollar fünfundsiebzig eine Karte von Brooklyn. Er fragte den Tankwart, oder vielleicht war es auch der Besitzer, wo genau er sich befand. Der Mann war ungefähr fünfzig Jahre alt, hatte einen dicken Bauch und weiße Haare. Er kniff seine wäßrigen blauen Augen zusammen und antwortete mit breitestem Brooklyn-Akzent: »Wie meinense das, wo Sie hier sind? Sie sind in Brooklyn – Boro Park.«
Boro Park klang wie Burrow Park.
»Das hier ist immer noch Boro Park?« fragte Decker.
»Hamse sich verfahrn?« fragte der Tankwart. »Gebense mir die Adresse, und ich sag Ihnen, wiese hinkommen.«
»Also ist Boro Park gar nicht ganz jüdisch?«
»Nun ja, das meiste ist jüdisch. Wollense in den jüdischen Teil?«
»Nein, da komme ich gerade her«, sagte Decker.
»Komisch, Sie sehn gar nicht jüdisch aus.« Der Tankwart brach in schallendes Gelächter über seinen eigenen Scherz aus.
Decker wartete, bis der Mann sich beruhigt hatte, dann fragte er: »Wenn das hier nicht der jüdische Teil von Boro Park ist, was ist es denn dann?«
»Hier wohnen einfache italienische Arbeiter, ’n paar Puertoricaner und Asiaten.« Der Mann wies mit einem Daumen hinter sich. »Wennse in die Richtung fahrn, also nach Osten, da ist Bay Ridge, auch einfache Italiener. Wennse nach Süden fahrn, da ist Bensonhurst. Da habense reiche Italiener. Wennse Verwandte in Bensonhurst ham, tut Ihnen niemand was, verstehnse, was ich mein?«
Decker sagte ja.
»Im Westen ist Flatbush«, fuhr der Tankwart fort. »Wennse noch weiter nach Westen fahrn, aber das lassense lieber bleiben, das is nämlich überhaupt nich gut. Wennse nach Norden fahrn, kommense irgendwann nach Williamsburg. Da sind wieder reiche Juden und viele Puertoricaner. Wir ham alle möglichen Typen, Gegenden und Sachen hier. Jede Menge Sachen das kann ich Ihnen sagen. Was suchense denn?«
Decker gab ihm das Bild von Noam Levine. Der Tankwart warf einen flüchtigen Blick auf das Foto und gab es Decker zurück.
»Den Jungen hab ich nie gesehn«, sagte er. »Würd ihn allerdings auch nicht erkennen, selbst wenn er vor mir stehen tät. Für mich sehn diese Jungs alle gleich aus mit ihren Shirley-Temple-Locken. Warum tun die das ihren Söhnen an? Wollen die, daß die schwul werden oder was?«
Decker zuckte unverbindlich die Achseln. Ihm fiel der geschwätzige Taxifahrer ein, der gesagt hatte, daß die Flatbush Avenue die Hauptverkehrsstraße von Brooklyn sei. Er fragte nach dem Weg dorthin. Zwar hatte er ein paar Adressen von Spielhallen und Kinos, aber bevor er die unter die Lupe nahm, wollte er erst mal ein bißchen Gefühl für die Stadt kriegen. Außerdem konnte er sehr gut nachdenken, wenn er nachts allein durch die Gegend fuhr.
Inzwischen war es fast ganz dunkel geworden, und die Flatbush Avenue wirkte verlassen und unheimlich. Das Straßenbild war von Neonlicht und Schatten geprägt. Alle paar Meilen sah Decker Jugendliche mit Wollmützen. Sie standen an
Weitere Kostenlose Bücher