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Tag der Buße

Titel: Tag der Buße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Faye Kellerman
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Park herum und hört sich Rockmusik an.«
    Decker stellte sich vor, wie Noam sich davonschlich, möglicherweise mit dem Guns ’n’ Roses-T-Shirt unter seiner traditionellen Kluft. Oder wie er, wenn er allein war, sein normales Hemd auszog, das T-Shirt aus der Hose zog und sein jämmerliches kleines Radio auf volle Lautstärke drehte – wie Clark Kent, der sich in Superman verwandelt.
    Der Versuch, sich gehen zu lassen, wie die anderen zu sein.
    Aber er hatte sich immer wieder umgesehen, um sicherzugehen, daß ihn niemand beobachtete.
    Decker legte Sprungrahmen und Matratzen zurück und steckte die Laken wieder fest. Dann nahm er sich die Kopfkissen vor. Als er den Reißverschluß an einem Bezug aufgezogen hatte, fühlte er etwas Flaches, Hartes, etwa so groß wie eine Spielkarte. Zunächst glaubte er, es wäre ein Taschenrechner, dann stellte sich heraus, daß es ein Game Boy mit Octopus war. Sammy hatte das gleiche Spiel. Ziel dabei war, so viele Punkte wie möglich zu sammeln, bevor man von einem riesigen Fangarm totgequetscht wurde. Er zeigte es den beiden Brüdern.
    »Einige Kinder bei uns in der Schule haben so was«, sagte Boruch. »Hey, Moment mal. Hat Shmuli nicht auch so ein Spiel?«
    Decker nickte.
    »Da hat er’s aber gut.« Boruch sah Decker sehnsüchtig an. »Abba erlaubt nicht, daß ich mir eins kaufe, noch nicht mal von meinem eigenen Geld. Er sagt, das sei Geldverschwendung … ist es vermutlich auch.«
    Zum ersten Mal schlich sich Unzufriedenheit in die Stimme des Jungen.
    »Aber wenn ein Freund eins mitbringt«, fuhr Boruch fort, »zum Beispiel Shmuli, dann läßt Abba mich damit spielen. Wenn ich meine Hausaufgaben schon gemacht habe.«
    »Also weiß euer Abba nicht, daß Noam so ein Spiel hat?« fragte Decker.
    »Ganz bestimmt nicht«, sagte Aaron. »Abba ist ziemlich streng mit dem, was wir haben dürfen und was nicht. Das heißt aber nicht, daß er nicht will, daß wir Spaß haben. Er will, daß wir in unserer Freizeit viel Sport machen. Wir haben Basketbälle, Baseball-Bälle und Fußbälle. Manchmal spielt er sogar mit uns. Besonders Basketball.«
    Das klang ein wenig defensiv. »Ihr alle zusammen müßt ja ein ganz gutes Team sein. Spielt Noam auch mit?«
    »Manchmal«, sagte Boruch.
    »Wissen Sie, Noam ist zwar ein bißchen größer als ich und all die anderen«, sagte Aaron, »aber er bewegt sich nicht besonders gut. Und er ist sehr langsam.«
    »Er kann sich aber auch nicht gut aufs Spiel konzentrieren«, sagte Boruch. »Manchmal werfe ich ihm den Ball zu, und es ist, als ob er auf dem Mars wär. Der Ball prallt einfach an seiner Brust ab. Zum Glück ist er groß, sonst würde er dauernd umgeworfen. Er spielt aber auch kaum noch mit uns, macht ihm wohl keinen Spaß mehr.«
    »Kann ich mir vorstellen«, sagte Decker, der sich an seine eigene Jugend erinnert fühlte. Weil er immer einen Kopf größer als alle anderen war, wurde er automatisch als Center gewählt. Aber wie Noam war auch er ziemlich schwer. Und es war besonders peinlich, wie ein Elefant über den Hof zu trampeln, wenn alle von einem erwarteten, daß man gut war. Schon im ersten Jahr an der Highschool gab er Basketball auf und begann, Football zu spielen. Und nach nur sechs Monaten hatte er den Sprung ins Florida All-Star-Team geschafft. Er brauchte nichts weiter zu tun, als die gegnerische Mannschaft über den Haufen zu rennen – ein Kinderspiel. Mit sechzehn war er nämlich bereits einen Meter fünfundachtzig groß und über achtzig Kilo schwer gewesen.
    Er steckte den Game Boy ein. Wenn Noam weggelaufen war, warum hatte er dann sein T-Shirt mitgenommen, aber nicht dieses Spiel? Vergessen hatte er es ganz bestimmt nicht.
    Decker dachte einen Augenblick darüber nach.
    Vielleicht hatte der Junge es ganz bewußt als Hinweis hinterlassen.
    Doch selbst wenn das nicht der Fall war, erfüllte das Spiel denselben Zweck, ob es nun mit Absicht zurückgelassen worden war oder nicht. Decker wußte jetzt, daß Noam Rockmusik und Computerspiele mochte. Shirt und Spiel gaben ihm Hinweise, wo er suchen mußte.
    »Ich bring euch jetzt zu eurer Bubbe zurück«, sagte Decker.
    Boruch stand auf, doch Aaron rührte sich nicht. Decker fragte ihn, was los sei.
    »Ich mache mir Sorgen«, sagte Aaron. »Nicht weil ich glaube, daß Noam entführt worden ist, sondern weil ich fürchte, daß er irgendwas Dummes gemacht hat und jetzt in Schwierigkeiten steckt. Er würde nicht einfach verschwinden, wenn er nicht in Schwierigkeiten wäre.«
    Decker

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