Tag der Buße
Straßen abgesucht, Kinos, Diskotheken, Spielhallen und schließlich die Obdachlosenunterkünfte abgegrast hatte, war Decker keinen Schritt weitergekommen. Eine halbe Stunde nach Mitternacht gab er auf und erkundigte sich bei Jonathan und Shimon, was sie erreicht hätten. Die Befragungen in der Nachbarschaft hatten nichts Wesentliches ergeben. Jonathan war aufgefallen, daß einer der Jungen in Noams Alter beunruhigt gewirkt hatte, als Shimon mit den Eltern sprach. Da er seinem Gedächtnis nicht traute, hatte Jonathan sich Name und Adresse aufgeschrieben – ein weiterer Verstoß gegen das religiöse Gesetz. Aber das hier war eindeutig ein Fall von pikuach nefesch – die Rettung eines Menschenlebens hatte Vorrang vor fast allem.
Die Levines waren alle noch auf und außer sich vor Sorge. Decker und Frieda Levine sahen sich mehrmals kurz an. Sie hatte rote Augen, und ihre Hände waren vom vielen Kneten ganz wund. Er hatte den Ausdruck ihrer Augen nur flüchtig erkennen können, doch dieser kurze Moment hatte ihm alles gesagt.
Bitte hilf uns, hilf mir.
Wo war sie denn gewesen, als er sie vor einundvierzig Jahren gebraucht hatte?
Aber tief in seinem Herzen konnte er ihr nicht böse sein – zumindest nicht in dieser Situation. An die übrige Familie gewandt schlug Decker vor, sie sollten sich hinlegen und versuchen zu schlafen. Am Morgen würde er sich dann mit den Kindern unterhalten. Doch jetzt würde er erst mal zur Polizei gehen, um die Vermißtenanzeige aufzugeben. Die Familie wollte mitkommen, doch Decker sagte, es wäre besser, das von Cop zu Cop zu regeln. Er brauche nur noch eine genaue Beschreibung von Noam, Größe, Gewicht usw. und was er anhatte, als er verschwunden war.
Bevor er sich auf den Weg zur Polizei machte, nahm er Rina beiseite.
»Soll ich dich erst zu Fuß zu den Lazarus’ zurückbringen?«
»Nein«, sagte sie. »Ich warte hier auf dich.« Sie strich ihm einige rote Haarsträhnen aus dem Gesicht, die ihm in die Stirn hingen. »Du siehst müde aus.«
Decker lächelte. »Ich kann nicht gerade behaupten, daß ich topfit wäre.«
»Mrs. Levine hat gesagt, du wärst ein Geschenk des Himmels. Du wärst von Haschem geschickt worden.«
»Das hat sie gesagt?«
Rina nickte.
»Alles liegt in Gottes Hand«, sagte Decker. »Das ist eine saubere und klare Art, mit den eigenen Schuldgefühlen umzugehen.«
»Ach, Peter …«
»Das war gemein.« Er atmete heftig aus. »Sie tut mir wirklich sehr leid. Sie und die Eltern. Das muß für sie die Hölle sein.«
»Ich weiß, daß du mit ihnen fühlst«, antwortete sie. »Deshalb machst du das alles ja auch nur. Und glaub bitte nicht, daß die Familie nicht dankbar wäre. Sie reden von nichts anderem, als was für ein Glück sie haben, in so einer Situation jemanden wie dich …«
»Rina …«
»Sie haben Glück.« Sie küßte ihn flüchtig auf den Mund. »Alle haben Vertrauen zu dir …«
»Yeah, die Sache hat nur einen kleinen Haken«, sagte Decker. »Ich bin da in einer etwas heiklen Position. Je nach dem, wie diese Sache ausgeht, bin ich entweder der Retter oder der letzte Dreck. Und keine dieser Rollen gefällt mir so besonders.
Ich werde Ezra und Breina empfehlen, einen Profi anzuheuern.«
»Du bist ein Profi.«
»Ich hab schon einen sehr anstrengenden Job und deshalb kein Interesse an unbezahlter Schwarzarbeit.«
Rina schwieg.
»Ich hab das nicht so gemeint«, sagte Decker. »Mir geht’s nicht ums Geld.«
»Das weiß ich.«
»Ich will die Verantwortung nicht übernehmen, Rina«, sagte Decker. »Verdammt, die ganze Sache geht mir viel zu nahe. Wenn es mein Sohn wäre, würd ich jemanden anheuern. Eine gute private Detektei hat überall im Land ihre Verbindungen. Sie hat Kontakte zu anderen Büros, die besten Kopfgeldjäger und ausreichend Personal. Die können in einem Tag mehr schaffen als ich in einem ganzen Monat.«
»Ezra ist nicht sehr vermögend«, sagte Rina. »Das einzige von Wert, was er besitzt, ist sein Haus. Was kosten denn solche Detekteien?«
Decker mußte einen Augenblick nachdenken. »Wenn sie den Jungen rasch finden, kann es nicht so teuer werden. Und die guten Agenturen finden Vermißte meist ziemlich schnell.«
»Und wenn nicht?«
Decker seufzte. »Bis zum Ende des Urlaubs tu ich, was ich kann. Aber dann will ich da raus. Dann such ich der Familie den besten Privatdetektiv, der zu kriegen ist. Einen, der sich in New York auskennt. Wenn das in L.A. wäre, würd ich vielleicht noch ein paar Tage dranhängen. Aber ich
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