Tag der Buße
bin hier fremd, Rina.«
»Ganz wie du meinst, Peter.«
Ihre Stimme klang bedrückt. »Du meinst, ich sollte mehr tun?« fragte Decker.
Rina seufzte. »Nein … Nein, natürlich nicht. Es ist nur … ach …«
»Was denn? Was?«
»Ich weiß nur …« Rina seufzte wieder. »Wenn es um Sammy oder Jakey ginge, würde ich wollen, daß du es übernimmst.«
»Aber ich würde es nicht tun, wenn es um Sammy oder Jakey ginge. Das versuche ich dir doch gerade zu erklären. Ein einzelner kann bei solchen Sachen viel zu wenig machen. Außerdem übernimmt man keine Fälle, in die man persönlich verwickelt ist.«
Er merkte, daß er immer lauter geworden war, und senkte seine Stimme zu einem Flüstern.
»Das nenn ich wunderbare Flitterwochen. Erst werd ich hier als schlechter Ersatz für deinen verstorbenen Ehemann befunden …«
»Das ist nicht …«
»Also gut, es ist nicht wahr. Sie lieben mich wegen meiner schönen roten Haare.«
»Peter …«
»Ich will ja gar nichts gegen den Lazarus-Clan sagen. Deine Ex-Schwiegereltern sind schon ganz nette Leute. Aber versetz dich doch mal in meine Lage. Bei meinem Hintergrund, wie soll ich mich denn da wie zu Hause fühlen?«
Rina senkte den Blick. »Ich weiß, daß es schwer ist.«
»Es ist verdammt schwer, aber ich kann damit umgehen. Und wenn du mir die Bemerkung erlaubst, möchte ich sagen, daß ich es ganz gut geschafft hab, mich anzupassen, bevor ich urplötzlich mit meiner verloren geglaubten Mutter konfrontiert wurde. Ich hab mich immer noch nicht von dem Schock erholt, da passiert dieser Alptraum. Und jetzt soll ich mich wie ein objektiver, unbeteiligter Profi verhalten. Um Himmels willen, Rina, der Junge ist mein Neffe. Meine Gefühle sind so verwirrt, daß ich wahrscheinlich Jahre brauche, bis ich sie wieder geordnet hab. Was erwartest du denn von mir?«
»O Peter!« Rina umarmte ihn so fest sie konnte. »Es tut mir leid!« Sie brach in Tränen aus. »Es tut mir leid!«
»Schon gut«, sagte Decker und drückte sie ebenfalls an sich. »Es tut mir auch leid. Ein Teil von mir würde am liebsten aus dem ganzen Schlamassel abhauen. Und der andere Teil drängt mich, mehr zu tun. Aber ich komm nicht weiter, und deshalb fühle ich mich wie ein Versager. Dabei hab ich die besten Voraussetzungen. Ich bin Polizist im Jugenddezernat, und ich habe schon Hunderte vermißter Kinder aufgespürt. Gerade ich sollte in der Lage sein, etwas zu erreichen.« Er hielt einen Augenblick inne. »Dieser Scheißlärm … Entschuldige, ist mir so rausgerutscht.«
Rina hielt ihn lächelnd weiter umarmt.
Nach einer Weile machte Decker sich los. »Ich muß jetzt mit der Polizei reden und die Vermißtenanzeige aufgeben. Mal sehen, was dann passiert.«
»Soll ich mitkommen? Es sind nur zehn Minuten zu Fuß von hier.«
»Nein.«
»Ich brauch ja nur bis zum Gebäude mitzukommen …«
»Nein, ich hab einen Stadtplan. Ich schätze, ich bin in etwa einer Stunde zurück. Willst du wirklich nicht nach Hause?«
»Ich warte hier auf dich«, sagte Rina.
»Das brauchst du aber nicht.«
»Ich möchte aber.«
»Ich hab nichts dagegen.«
11
Für Boro Park war das 66. Revier zuständig. Bei den Polizisten hieß es das Six-Six. Das Gebäude lag Ecke Sixteenth Avenue und Fifty-ninth Street. Es war ein kastenförmiges zweistöckiges Backsteinhaus mit einem höheren turmartigen Anbau, der ebenfalls aus Backstein war. Eine solche Festung hätte die Drei Kleinen Schweinchen auf Jahre vor jedem Wolf geschützt. Auf dem niedrigeren Gebäude wehte die amerikanische Flagge im Wind.
Vor dem Revier parkten ein schwarzer Ford LTD und drei leuchtendblau-weiße Streifenwagen nebeneinander auf dem Bürgersteig. Decker sprang die drei Betonstufen hinauf, öffnete eine mit Roststellen übersäte Tür und trat in eine kleine Eingangshalle. Die Wände waren mit ausgeblichenen senffarbenen Fliesen gekachelt, die von schwarzem Fugenkitt zusammengehalten wurden. Der Boden war mit mattgrünen Marmorplatten ausgelegt, in deren Mitte sich ein ebenso verwaschenes türkises Marmorquadrat befand. Der Putz an der Decke sah aus, als ob jeden Augenblick eine Ladung Gips herunterkommen würde. An den Wänden befanden sich ein Münzfernsprecher, ein Getränkeautomat und ein Automat für Süßigkeiten. Mittendrin stand ein Polizeibeamter in Uniform. Der Polizist war klein und dunkelhäutig, hatte einen dicken schwarzen Schnurrbart und brauchte dringend eine Rasur. Auf seinem Namensschild stand Melino. Er trug ein hellblaues Hemd mit
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