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Tag der Buße

Titel: Tag der Buße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Faye Kellerman
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einer marineblauen Krawatte, marineblaue Hose und schwarze Schnürschuhe mit Gummisohlen. Er musterte Decker abschätzig und war offenbar überhaupt nicht begeistert von dem, was er da sah.
    Daran war Decker gewöhnt. Aufgrund seiner Größe reagierten viele Männer mißtrauisch auf ihn. Doch dann merkte er, daß Melino auf die Ausbuchtung in seinem Jackett starrte. »Ich bin von der Polizei in L. A. Ich trage eine verdeckte Waffe und habe auch die entsprechende Erlaubnis für den Staat New York.« Er hob die Hände. »Sehen Sie nach.«
    Der Polizist kam herübergeschlendert, tastete Decker ab und nahm die Beretta aus seinem Hosenbund. Er starrte die Waffe an, drehte sie herum und starrte erneut darauf.
    »Hübsch«, sagte er. »Eure Standardwaffe?«
    Decker senkte die Arme. »Eine von mehreren Möglichkeiten.«
    »Hübsch«, wiederholte Melino.
    »Wollen Sie meine Lizenz überprüfen?« fragte Decker.
    Der Polizist zuckte die Achseln. »Na klar.«
    Decker nahm seine Brieftasche heraus. Melino warf einen kurzen Blick darauf, dann kehrten seine Augen zu der Beretta zurück. »Da ist ja gar kein Magazin drin.«
    »Das weiß ich«, sagte Decker.
    »Ist das dann nur Show oder was?«
    »Nein, das ist schon meine Waffe. Ich hielt es nur für keine so gute Idee, mit einer geladenen Halbautomatik hier reinzukommen.«
    Melino gab Decker die Waffe zurück. »Was kann ich für Sie tun?«
    »Ich muß eine Vermißtenanzeige erstatten«, sagte Decker. »Ein Junge aus der Gegend, vierzehn Jahre alt.«
    »Hier aus der Gegend? Einer von den Hassidim?«
    Decker mußte lächeln. Der Polizist sprach Chassid auch mit einem weichen H aus, genau wie er.
    »Yeah, einer von denen mit den schwarzen Hüten.«
    »Ist er psychisch gestört?« fragte Melino.
    »Nicht daß ich wüßte.«
    »Wie lange ist er schon verschwunden?«
    »Seit ungefähr fünfzehn Stunden.«
    »Und Sie erstatten erst jetzt Anzeige?« fragte der Polizist. »Normalerweise haben wir, wenn Kinder verschwinden, nach ein oder zwei Stunden ein hysterisches Elternteil auf der Matte stehen.«
    »Kommen solche Fälle hier häufiger vor?«
    »Nee«, sagte Melino. »Ich kann mich nur an ganz wenige in den letzten zehn Jahren erinnern. Obwohl es in diesem Revier so verdammt viele Kinder gibt, daß mir völlig schleierhaft ist, wie die Eltern sie im Auge behalten können. Allerdings ist das eine der wenigen Gegenden in New York, die ein Community Patrol Officers Program haben – also Streifenpolizisten. Wenn uns ein Kind als vermißt gemeldet wird, schicken wir einen C-POP-Beamten nach ihm suchen. Meistens sind es Jungs. Und fast immer finden wir den Jungen bei einem Freund zu Hause, und er hat bloß vergessen, seiner Mutter Bescheid zu sagen.«
    »Yeah, das hab ich zuerst auch gedacht«, sagte Decker. »Deshalb hab ich mit der Meldung gewartet, bis wir überall in der Nachbarschaft herumgefragt und die Straßen abgesucht hatten.«
    »Wenn Sie das alles schon gemacht haben, können wir auch nicht mehr tun, als die Meldung durchgeben«, sagte Melino.
    »Yeah, ich weiß«, sagte Decker.
    »Sind Sie ein Freund der Familie oder was?«
    »Ein Freund der Familie.«
    »Gehen Sie rein«, sagte der Polizist. »Weiczorek, der diensthabende Sergeant, wird Ihnen weiterhelfen.«
    Decker ging durch den kleinen Vorraum in die eigentliche Dienststelle und dachte, daß das ganze Polizeirevier stark renovierungsbedürftig war.
    Der Raum, in den er trat, sah aus wie ein unfertiger Keller. Rohre und elektrische Leitungen liefen über die Wände. An der Decke waren nackte Leuchtstoffröhren befestigt. Die Wand rechts von ihm war mit rostigen Aktenschränken zugestellt, die vermutlich alte Fälle enthielten – und alle offenstanden. Der eigentliche Aufnahmebereich war etwa sechs mal zwölf Meter groß und wurde von einem breiten Gang geteilt, der mit den gleichen verwaschenen grünen Marmorplatten ausgelegt war, die er bereits im Vorraum gesehen hatte. Der Gang führte zu einer Wand, die wiederum senffarben gefliest war und mehrere verschlossene Türen enthielt. Dahinter lagen zweifellos die Büros der höheren Tiere. Hinten in einer Ecke stand ein Tisch mit zwei Computern samt Tastaturen, einer Schreibmaschine, einem giftgrünen Telefon, einem Pappbecher mit Lippenstiftspuren und einem Stapel Papiere, der den Gesetzen der Schwerkraft trotzte. Über dem Tisch kamen noch mehr Drähte aus der Wand, außerdem hingen dort ein Verteilerkasten, ein Schlüsselbrett, eine kleine Karte vom gesamten Revier und ein

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