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Tag der Buße

Titel: Tag der Buße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Faye Kellerman
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ein Rabbi mittleren Alters mit einem breitkrempigen Stetson. Ein überdimensionaler Band lag aufgeschlagen vor ihm. Offenbar erklärte er gerade zwei Jungen, die reichlich schmächtig aussahen, etwas. Der Lärm war ohrenbetäubend, das Licht unangenehm grell. Obwohl gemeinschaftliches Lernen Decker durchaus nicht fremd war, störte ihn dieser Tumult immer noch. Rina, die jahrelang in einer Jeschiwa unterrichtet hatte, schien sich wie zu Hause zu fühlen.
    Rav Miller bedeutete ihm mit erhobener Hand stehen zu bleiben. Dann ging er zu dem Rabbi mit dem Stetson, beugte sich zu ihm und begann, ihm ins Ohr zu flüstern. Nach etwa zwei Minuten schlug der Stetson-Rabbi auf sein Pult, und der Lärm erstarb sofort bis auf ein zaghaftes Flüstern hier und da.
    »Scheket …«, sagte der Rabbi mit dem Stetson. Seine Stimme war tief und kratzig – die Stimme eines Rauchers. »Ein Polizist möchte mit euch reden.« Er sah zu Decker hinüber.
    Nach dieser superkurzen Einleitung erklärte Decker, er versuche, den Namen eines Mannes herauszufinden, der möglicherweise einen Jungen in ihrem Alter entführt habe. Er wolle mit jedem Jungen einzeln sprechen. Ansonsten sollten alle mit dem weitermachen, womit sie gerade beschäftigt waren.
    Die Jungen sahen Decker mit vor Aufregung weit aufgerissenen Augen an. Decker wünschte, er hätte ihnen etwas Ehrfurchteinflößenderes zu sagen gehabt.
    Er beschloß, am östlichen Ende anzufangen, also mit den Jungen, die dem Torah-Schrein am nächsten saßen. Als Rav Miller merkte, daß er nicht länger gebraucht wurde, entschuldigte er sich. Rina wartete draußen vor dem Saal auf Deckers Anweisung. Seine Anwesenheit war schon Ablenkung genug. Ihr Anblick – auch wenn sie wie ein Fischweib aussah – würde die Jungen völlig durcheinanderbringen.
    Nach zwanzig Minuten hatte Decker das Gefühl, daß er den ersten Durchbruch erzielt hatte. Ein Junge, der offenbar etwas wußte. Er sah es ihm am Gesicht an, noch bevor er den Mund aufmachte.
    Es war ein hübscher Junge. Er hatte eine glatte Haut ohne die Spuren hormoneller Veränderungen, ausgeprägte Wangenknochen und ein kräftiges Kinn. Seine dunklen Augen waren von einem hellgrünen Ring umschlossen; seine dichten Augenbrauen ließen ihn älter erscheinen, als er war. Doch die Augen waren von Angst erfüllt.
    Decker fing ganz behutsam an und fragte den Jungen nach seinem Namen. Er hieß Eli Greenspan und wohnte ein paar Blocks weiter auf dem Eastern Parkway. Eli hatte Probleme, ihm in die Augen zu sehen. Decker zeigte ihm das Foto von Noam. Wie erwartet leugnete der Junge, ihn zu kennen.
    Decker fragte ihn nach Hersh.
    Er leugnete ebenfalls, ihn zu kennen.
    Decker bat ihn, ein bißchen länger darüber nachzudenken – nur um ganz sicher zu gehen.
    Eli sagte, er sei sich absolut sicher, dann biß er sich auf die Lippen. Ihn vor seinen Freunden und vor seinem Lehrer zur Rede zu stellen kam nicht in Frage. Aber er würde ihn sich später noch einmal vornehmen. Die restlichen Gespräche waren in etwa einer Stunde abgewickelt, da die übrigen Jungen nichts Interessantes zu berichten hatten. Aber Decker war optimistisch.
    Er verließ mit Rina die Jeschiwa. Sie gingen zum Auto, er hielt ihr die Tür auf, setzte sich dann hinters Lenkrad und startete den Motor. Als in beiden Richtungen frei war, wendete er, obwohl das dort verboten war, und parkte auf der anderen Straßenseite. Rina wollte wissen, was los sei.
    »Warst du schon mal angeln?« fragte Decker.
    »Nein.«
    »Das hier nennt man ›warten, daß einer anbeißt‹.«
    »Hast du was rausgekriegt?«
    »Vielleicht.«
    Rina sah ihn an. »Was soll diese Geheimnistuerei?«
    Decker lachte. Dann erklärte er, was er vorhatte. Eli Greenspan wohnte nur ein paar Blocks entfernt, und er wollte ihn auf dem Nachhauseweg von der Schule abfangen. Er fragte Rina, ob sie wüßte, wann die die Kinder nach Hause schickten. Sie meinte, gegen vier oder fünf - also in drei bis vier Stunden. Einige Minuten verstrichen.
    »Ist das so was wie eine Beschattung?« fragte Rina.
    Decker murmelte zustimmend und verfiel in Schweigen.
    »Wo ist denn dann die Thermosflasche Kaffee?« fragte Rina.
    Decker lächelte, hielt aber die Augen auf den Eingang der Schule gerichtet.
    »Können wir uns unterhalten?« fragte Rina. »Oder muß man bei Beschattungen unbedingt schweigen?«
    »Wir können uns ruhig unterhalten.«
    Aber beide schwiegen.
    Fünf Minuten später kam eine Gruppe von Schülern aus dem Gebäude und lungerte auf der

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