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Tag der Buße

Titel: Tag der Buße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Faye Kellerman
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Blick fiel erst auf ihn, dann auf Rina.
    »Kann ich Ihnen helfen?«
    Rina lächelte unglücklich und nahm mit sorgenvollem Ausdruck ein Bild von Noam heraus. Dann erklärte sie mit mitleiderregend leiser Stimme, daß dieser Junge vermißt würde und sie mit der Familie befreundet sei. Soviel konnte Decker verstehen. Dann trug Rina noch dicker auf und fing an, Jiddisch zu sprechen.
    Decker stand daneben und bemühte sich, nicht bloß wie ein schmückendes Beiwerk auszusehen. Dumm von ihm anzunehmen, er hätte das ohne einen Insider durchziehen können. Trotzdem mußte er sich innerlich auf die Schulter klopfen. Ein normaler Privatdetektiv hätte die Sache völlig versiebt. Doch nun war er gefangen. Er mußte an dem Fall arbeiten, bis er gelöst war oder sich zumindest nicht mehr innerhalb der religiösen jüdischen Gemeinschaft abspielte.
    Die Frau kommentierte Rinas Erzählung mit ernstem Kopfnicken. Nachdem Rina ihr Anliegen vorgetragen hatte, sagte die Frau etwas auf Jiddisch, stand auf und ging hinaus.
    »Voos?« fragte Decker. Voos hieß »was« und war das einzige jiddische Wort, das er konnte.
    »Sie geht die großen Jungs holen«, sagte Rina.
    »Was hast du ihr erzählt?«
    »Die Wahrheit«, sagte Rina. »Die ist traurig genug. Wenn ich anfange, darüber nachzudenken, wird mir ganz schlecht. Arme Breina. Sie muß sich sterbenselend fühlen.«
    »Du hilfst ja, so gut du kannst.«
    »Und wie geht’s dir?«
    »Wie meinst du das?«
    »Ich meine … nun ja, du weißt schon. Denkst du viel an Mrs. Levine?«
    Decker sah sie verdrießlich an. »Nur wenn mich jemand daran erinnert.«
    »Entschuldige.«
    Er legte einen Arm um sie, doch dann fiel ihm ein, wo sie waren, und er zog ihn sofort wieder weg. »Tut mir leid, daß ich dich angeschnauzt hab. Diese ganze Familiengeschichte belastet mich ziemlich. Irgendwann komm ich schon damit klar. Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt.«
    Rina drückte kurz seine Hand. Das gefiel ihm.
    Buster Brown kam mit zwei Rabbis zurück. Der eine schien Anfang Fünfzig zu sein. Sein schwarzer Bart war mit grauen Strähnen durchsetzt. Der andere war jünger – so in Deckers Alter. Er hatte eine glatte Haut wie ein Baby. Nur auf seiner Oberlippe war ein schmaler Streifen rötlichen Flaums. Buster stellte sie Rina als Rav Seder und Rav Miller vor. Rina nahm das Foto heraus und ließ erneut ihren Sermon auf Jiddisch los.
    Plötzlich starrte der jüngere, Rav Miller, Decker an und fragte: »Sind Sie Polizist?«
    »Er ist Detective«, sagte Rina. »Ein Detective Sergeant.«
    »Arbeiten Sie nicht in Uniform?« fragte Rav Seder.
    »Detectives tragen keine Uniformen«, antwortete Decker.
    »Wie machen Sie das mit dem Schabbes?« fragte Rav Miller.
    »Das ist vermutlich wie bei Ärzten«, sagte Rev Seder. »Irgendwer springt am Schabbes für Sie ein, oder?«
    »Normalerweise, ja«, sagte Decker.
    »Was wollen Sie von unseren Jungen – unseren Bochrim?« fragte Rav Seder.
    »Ihnen nur ein paar Fragen stellen«, sagte Decker.
    »Und Sie meinen, das hilft Ihnen weiter?« fragte Rav Seder.
    »Könnte schon sein«, sagte Decker.
    »Wenn Sie es rasch erledigen können, ist es von mir aus in Ordnung«, sagte Rav Seder.
    »Danke«, sagte Decker.
    Rina lächelte.
    »Rav Miller bringt Sie zum Studiersaal«, sagte Rav Seder. »Die Jungen lernen gerade dort.«
    »Welchen Massechet?« fragte Decker. Ein Massechet war ein Traktat des Talmud. Das mußte er unbedingt anbringen, um ihnen zu beweisen, daß er die Terminologie beherrschte. Rav Seder wirkte eher verärgert als beeindruckt.
    »Welcher Massechet ist heute Schiur Bejss?« fragte er Rav Miller. »Bava Metziah oder Bava Basra?«
    Rav Miller zuckte unwissend die Schultern.
    Rav Seder entließ sie mit einer Handbewegung.
    Der Studiersaal lag im Keller – hundert Quadratmeter vollgepackt mit pubertierenden Jungen, die noch nicht gelernt hatten, wie man ein Deodorant benutzt. Die Wände waren mit schlechtem Rosenholzfurnier getäfelt. Dagegen lehnten zwanzig zusammengewürfelte Bücherregale. Der Fußboden war mit grauem Teppichboden ausgelegt. Der Torah-Schrein stand an der Ostwand und wurde von einem kunstvoll bestickten orangenen Samtvorhang umschlossen. Die Jungen saßen sich an Pulten gegenüber und riefen ihren Lernpartnern Fragen oder Antworten zu. Dabei gestikulierten sie wild mit den Händen. Einige wenige Jungen lernten allein. Sie wiegten ihre Oberkörper vor und zurück, während sie die religiösen Texte analysierten. In einer Ecke saß

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