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Tag der Buße

Titel: Tag der Buße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Faye Kellerman
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»Ich bin scheinbar immer noch ziemlich aufgedreht.«
    »Möchtest du über den Fall reden?«
    »Du weißt doch, daß ich nicht gern über meine Fälle rede.«
    »Ich dachte nur, das könnte dir helfen, ein bißchen Spannung loszuwerden.«
    »Mit mir ist alles in Ordnung, Rina. Ich hab mich in all den Jahren daran gewöhnt, fast immer unter Spannung zu stehen.«
    »Du weißt besser, was gut für dich ist«, sagte Rina.
    »Wenn du allerdings sehr neugierig bist …«
    Rina mußte innerlich grinsen. Er brannte förmlich darauf, mit jemandem zu reden, wollte sie nur nicht belasten. Sie nahm seine Hand und sagte: »Ein bißchen neugierig bin ich schon …«
    Ohne noch einen Augenblick zu zögern, spulte Decker alles herunter, was er rausbekommen hatte.
    Hersh Mendel Schaltz – einundzwanzig Jahre alt – war der einzige Sohn von Peretz und Bracha Schaltz. Er wuchs in Kew Gardens, Queens, auf, wo er bis zu seinem elften Lebensjahr mit seinen Eltern in derselben Wohnung lebte. Dann zogen sie nach Williamsburg, Brooklyn. Ein Jahr später wurden die Eltern geschieden. Hersh blieb bei seiner Mutter, der Vater verließ die Gemeinde. Danach war es fast unmöglich, Hershs Leben zu verfolgen. Er und seine Mutter waren offenbar dutzende Male umgezogen und hatten meist immer nur wenige Monate in einer Wohnung gewohnt. Und dann das Erstaunlichste: Peretz Schaltz heiratete wieder – und zwar eine Nichtjüdin.
    »Das mit ihrer Religionszugehörigkeit ist meine Vermutung«, sagte Decker. »Der Name der zweiten Frau war Christine McClellan.«
    »Also war Hershs Vater offensichtlich nicht orthodox«, sagte Rina.
    »Irgendwann war er’s anscheinend schon«, sagte Decker. »Ein ehemaliger Nachbar hat mir erzählt, er sei ein Szatmar-Chassid gewesen, einer der Gründe, weshalb die Familie nach Williamsburg gezogen ist.«
    »Warum hat er denn dann all die Jahre in Kew Gardens gewohnt?« fragte Rina.
    »Keine Ahnung. Hersh ist seinen Lehrern deutlich in Erinnerung geblieben, weil er aus dem Rahmen fiel. Als er in die Schule kam, sprach er mehr jiddisch als Englisch. Er zog sich anders an als die anderen. Offenbar besuchte er eine religiöse Tagesschule, doch sie galt als modern orthodox.«
    »Ich bin modern orthodox erzogen worden«, sagte Rina. »Wir waren von den anderen Kindern in der Nachbarschaft nicht zu unterscheiden, außer daß wir koscher aßen und den Schabbes einhielten. Die meisten von uns hatten amerikanische Namen, und wir sind mit Comics und Sitcoms im Fernsehen aufgewachsen. Wir sind Fahrrad und Skateboard gefahren und ins Kino und zu Rockkonzerten gegangen. Und unsere Mütter haben ihre Haare nicht bedeckt.«
    Sie schwieg einen Augenblick.
    »Ich erinnere mich, daß ich meine Eltern immer für ein bißchen heuchlerisch gehalten habe. Zu Hause waren sie koscher, und dann aßen sie Fisch in nicht koscheren Restaurants. Wir stellten zwar niemals den Fernseher an, aber er lief über einen Timer, damit Papa Sanford and Son nicht verpaßte. Was mir unter anderem an Yitz so gefallen hat, war seine Konsequenz.« Sie lächelte. »Damals war ich ziemlich selbstgerecht. Jetzt bin ich viel toleranter.«
    »Das ist mir schon aufgefallen.«
    Rina bemerkte das Funkeln in den Augen ihres Mannes und küßte ihn auf die Wange. »Keine Sorge. Du paßt schon auf mich auf.«
    »Ach was. Jedenfalls nach dem, was du beschrieben hast, war Hersh nicht modern orthodox. Seine Lehrer aus der Mittelstufe erinnern sich, daß er wie ein kleiner Rabbi angezogen war, immer lange Ärmel, schwarzen Mantel und Hut – sogar im Sommer. Außerdem hatte er Schläfenlocken. Einer der Lehrer hat sie als lange Würstchenlocken beschrieben.«
    »Er ist bestimmt von seinen Mitschülern viel aufgezogen worden.«
    »Da hast du sicher recht«, sagte Decker. »Anscheinend ist Hersh ständig mit irgendwem in die Wolle geraten, ein richtiger Unruhestifter. Doch den Lehrern, mit denen ich gesprochen hab, hat er leid getan. Er hatte keine richtigen Freunde und kam in Englisch nicht gut voran. Seine Eltern sprachen mit ihm nur Jiddisch. Oft waren die Eltern überhaupt nicht da. Seine Lehrerin aus der sechsten Klasse sagte, sie hätte sich immer an den Großvater gewandt, wenn es ein Problem gab. Der sprach allerdings auch mehr Jiddisch als Englisch. Sie meinte, Hersh hätte sehr an ihm gehangen. Sein Tod sei für Hersh ein traumatisches Erlebnis gewesen. Er ist fast einen Monat lang nicht in die Schule gekommen.«
    »Wie hast du das alles rausgekriegt?«
    »Wenn man erst

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