Tag der Entscheidung
Einblick in das Leid und die Furcht der unglücklichen Leute, die der Willkür anderer ausgesetzt waren. Und so gefährlich ihre Lage auch war, sie war grundsätzlich eine freie Frau und würde es auch wieder sein, wenn sie überlebte. Wie aber mußte man sich fühlen, wenn man wußte, daß es keine Hoffnung auf ein Entrinnen gab? Kevins große Wut und Betroffenheit, wenn sie über dieses Thema gesprochen hatten, war ihr nicht länger ein Rätsel.
Kamlio saß auf dem Esel. Das Gesicht der ehemaligen Kurtisane war blaß, aber sie blickte so teilnahmslos drein, wie es sich für eine Tsurani gehörte. Doch als sie einige Male in Maras Richtung blickte, erkannte diese Furcht und Besorgnis hinter der Maske. Wenn sie Mitleid für ihre Herrin empfand, die zu Fuß hinter dem Esel herstolperte, mußte in ihr etwas erwacht sein.
Je weiter sich der Tag hinzog, desto schroffer wurden die Hügel im Tiefland, und die Thuril drängten die Gefangenen immer höher hinauf zur Hochebene. Erschöpft und verschwitzt rief Mara sich den höheren Zweck in Erinnerung, für den sie sich bedingungslos ergeben hatten. Aber moralische Überlegungen schienen an Bedeutung zu verlieren, als ihre Kehle vom Durst austrocknete und ihre Beine von dem anstrengenden Marsch zu zittern begannen. Wieder mußte sie gegen ihre erlahmende Entschlossenheit ankämpfen: Sie mußte das Geheimnis hinter dem finden, was die Cho-ja und die niederen Magier »Das Verbotene« nannten. Sie hatte in diesem feindseligen Land ein Rätsel zu lösen, das noch unerträglicher dadurch wurde, daß die Lösung außerhalb tsuranischer Erfahrung lag. Mara hatte keinerlei Hinweis darauf, ob und wann sie sich bei einer Person von höherem Rang Gehör verschaffen würde. Sie sprach nicht einmal Thurilisch, und noch weniger wußte sie, welche Fragen sie stellen mußte. Wie arrogant war sie gewesen, als sie in dem Glauben an Bord der Coalteca gegangen war, sie könnte zu diesen fremden Ufern reisen und allem durch ihre Überzeugung und Persönlichkeit genügend Eindruck schinden, um freundlicherweise von den Feinden ihres Volkes angehört zu werden! Mara, die in ein mächtiges Haus hineingeboren und niemals der Privilegien ihres Ranges beraubt worden war, begriff jetzt, wie dumm ihre Annahme gewesen war. Als Gute Dienerin des Kaiserreiches, die vom Volk verehrt wurde, hatte sie eine besondere Position inne; niemals war ihr der Gedanke gekommen, daß Fremde anders handeln könnten. Die Lektionen, die sie von Kevin gelernt hatte, hätten sie eigentlich auf die Unterschiede der Völker aufmerksam machen sollen. Würden die Götter ihr jemals ihre Dummheit vergeben?
Die Angst setzte ihr immer mehr zu, als die Thuril sie ohne Pausen über einen hohen Paß durch die Berge drängten. Der Esel trottete voraus – befreit von den Sorgen der Menschen und zufrieden damit, das zu sein, wozu die Götter ihn geschaffen hatten: ein Lasttier. Meine Last ist nicht leichter, dachte Mara, stolperte wieder und spürte den Ruck an ihren zusammengebundenen Handgelenken, als sie versuchte, das Gleichgewicht zu halten. In ihre unglücklichen Gedanken versunken, bemerkte sie Sarics und Lujans gequälte, sorgenvolle Blicke nicht.
Auf ihren Schultern ruhte nicht nur das Schicksal ihrer Familie. Die Gefangenschaft erteilte ihr eine schmerzhafte Lehre: Kein Mann, keine Frau sollte abhängig von der Willkür einer anderen Person leben. Aber nur so konnte man das unglückliche Leben des gemeinen Volkes von Tsuranuanni beschreiben. Dessen Schicksal und das der niedrigsten Sklaven hing ebensosehr von ihr ab wie das der Adligen. Aber mit einer Reform konnte in Tsuranuanni erst begonnen werden, wenn die Allmacht der Versammlung gebrochen war.
Bittere Möglichkeiten kamen Mara in den Sinn, zerrten an ihrer mutigen Entschlossenheit: Vielleicht war Kasuma ihr letztes Kind, vielleicht dauerte die Trennung von Hokanu bis an ihr Lebensende, vielleicht mußte sie mit seinem Widerwillen gegen eine Tochter als Erbin leben. Kevin mit seinem so andersartigen Wesen hatte sie nur zu gut gelehrt, daß die Liebe zu einem Mann noch lange keine Garantie für einen Frieden mit ihm war; kein Augenblick in ihrem Leben war trauriger gewesen, und nur wenige bedauerte sie sosehr wie diesen, als sie durch das kaiserliche Dekret gezwungen worden war, den Barbaren wegzuschicken. Sie fürchtete, daß Hokanu sie ebenso abrupt verlieren könnte und alles ungesagt bliebe, was ihnen am meisten bedeutete. Mara schluckte schwer und kämpfte gegen
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