Tag der Entscheidung
irgendeiner Reaktion. Doch Mara reagierte nicht darauf. Einen Augenblick später fügte die Frau des Häuptlings hinzu: »Sehr wenig, wenn Ihr wie die anderen Tsuranis wärt, die wir kannten. Aber Ihr seid nicht so. Hotaba hat es begriffen, als er Euch den Tausch gegen das Dienstmädchen anbot.«
Maras Kinn rückte noch etwas höher. »Es ist nicht an mir, sie anzubieten – nicht einmal für die Möglichkeit, damit meine Familie von den Gefahren zu befreien, denen sie ausgesetzt ist. Ich habe sie vor die Wahl gestellt, und sie ist aus freiem Willen bei mir. Sie ist keine Sklavin …«
Mirana zuckte mit den Achseln, und die Fransen ihrer Schals schwangen in der kalten, scharfen Brise hin und her und verhedderten sich. »Tatsächlich könnt Ihr auch nach unserem geltenden Recht nicht über sie verhandeln. Aber die Herrschenden in Eurem Land verfügen täglich ganz nach Belieben über das Leben ihrer Bediensteten, Sklaven und Kinder und meinen, die Götter hätten ihnen das Recht dazu gegeben.«
»Das entspricht ihrem Glauben«, sagte Mara vorsichtig.
»Und auch Eurem?« Miranas Frage traf sie so hart wie der Schlag einer Querdidra-Gerte.
»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll«, gestand Mara und runzelte die Stirn. »Nur noch, daß ich als Gute Dienerin des Kaiserreiches einst mein Volk über mein eigenes Fleisch und Blut stellte. Doch jetzt kann ich mein eigenes Fleisch und Blut nicht einmal mehr über irgendeinen anderen Menschen stellen. Kamlio ist bei mir, weil ich einem Mann das Versprechen gab, sie so zu beschützen, wie er es tun würde. Meine Ehre ist nicht geringer als die des Mannes, der mir ihren Schutz anvertraute. Es gibt eine Ehre, die in blindem Gehorsam gegenüber der Tradition besteht, und es gibt eine Ehre, die … mehr ist.«
Miranas Blick wurde durchdringend. »Ihr seid anders«, sinnierte sie. »Betet zu Euren Göttern, daß dieser Unterschied genügt, um die Freiheit wiederzuerlangen. Ihr habt meine Unterstützung. Aber vergeßt nicht, die Männer in Thuril sprechen offener und sind entgegenkommender, wenn Frauen nicht anwesend sind. Unser Land ist hart und rauh, und der Mann, der sich zu weich gibt, wird die Frau nicht bei sich halten, die er geraubt hat.«
»Würde ihm ein anderer Mann die Frau stehlen?« fragte Mara überrascht.
Miranas vertrocknete Lippen verzogen sich zu einem unverfrorenen Grinsen. »Möglicherweise. Oder schlimmer noch, seine Frau könnte wegen seiner Torheiten Schnee in seine Decken stopfen und Heim und Herd verlassen.«
Trotz der Sorgen lachte Mara. »So etwas tut ihr hier?« »O ja.« Mirana sah, daß ihr Gast fröstelte. Sie nahm einen ihrer Schals und wickelte ihn um Maras Schultern; er roch nach Rauch von dem Holz und, etwas schwächer, nach ungebleichten Fellen. »Gehen wir zusammen zu meinem Lieblingsbäcker, wo das Gebäck zu dieser Stunde frisch gebacken wird und noch warm ist. Ich werde Euch erzählen, was wir hier sonst noch tun, außer die Hahnenkämpfe und die Aufgeblasenheit unserer Männer ernst zu nehmen.«
Gegenüber der stickigen Atmosphäre im Versammlungshaus war die Luft in der Bäckerei von den Öfen sehr trocken und warm, und es hatte in dem feuchten Klima des Hochlands etwas sehr Angenehmes und Gemütliches. Mara setzte sich etwas unbeholfen auf einen Holzstuhl. Die tsuranischen Kissen waren auf den Steinböden in diesen kühlen Bergen unpraktisch. Mara rutschte auf ihrem Stuhl herum, als sie versuchte eine bequeme Position zu finden und sich auf einen Abend mit leichtem Geplauder vorbereitete. Wie die Frau des Häuptlings in Loso schien auch Mirana sich mit oberflächlichen Themen begnügen zu wollen, während der Rat der Ältesten ohne sie weiterging. »Männer sind manchmal solche Kinder, denkt Ihr nicht auch?«
Mara zwang sich zu einem höflichen Lächeln. »Demnach scheint Euer Mann ein wütendes Kind zu sein.«
Mirana lachte. Sie ließ sich auf der anderen Seite des Holztisches nieder. Rillen zerfurchten die Oberfläche an den Stellen, wo die Ladenbesitzer während einer Plauderei mit Freunden das frische Brot geschnitten hatten. Mirana streifte mehrere Schichten Schals ab, und ihr weißes Haar wurde sichtbar, gehalten von geflochtenen Wollbändern. Sie seufzte nachsichtig. »Hotaba? Er ist ein Schaumschläger, aber ich liebe ihn. Er droht mir seit fast zweiundvierzig Jahren, mich mit Schlägen zum Schweigen zu bringen, beinahe seit dem Tag, an dem er mich auf die Schultern hievte und mit mir über die Berge rannte, auf der
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