Tag der Entscheidung
Ungerechtigkeit und Mord im Namen der Ehre niemals ein Ende nehmen.«
Mirana schien darüber nachzudenken, den Blick auf den Tisch voller Krümel gerichtet, die Hände ruhig gefaltet. Schließlich kam sie zu einer Entscheidung. »Ihr werdet angehört werden.«
Mara blieb keine Zeit, darüber zu grübeln, wie Mirana den Rat der Männer wohl beeinflussen könnte. Sie sah weder, daß die Häuptlingsfrau ein Zeichen gemacht noch daß sie etwas weitergegeben hätte, und doch öffnete sich in der nächsten Sekunde die Flügeltür zur Bäckerei, und eiskalte Luft strömte herein. Drei von den Öllampen, die die leere Bäckerei erhellten, erloschen in dem Windstoß.
Ein uralter Hochländer in einem schweren Umhang trat ein. Da nur noch eine Lampe – die hinter ihm – brannte, war das Antlitz des Neuankömmlings in der hellroten Glut nur undeutlich zu erkennen. Die vielen Wollroben rochen nach Querdidra, und an den Ohren, die knapp unter der Kapuze hervorlugten, hingen runde Ohrringe aus Corcara, die bei jedem Schritt hin und her schaukelten und aufblitzten. Von dem Gesicht im Schatten der Kapuze erkannte Mara nur wenig mehr als die runzlige Haut.
»Steht auf«, flüsterte Mirana mit einigem Nachdruck. »Ihr müßt Respekt zeigen, denn das ist die Kaliane, und sie kommt, um Euch anzuhören.«
Mara wölbte bei dem unbekannten Wort die Brauen.
»Kaliane ist der traditionelle Name für die Person, die sich als die stärkste und beste in den Mysterien der Magie erwiesen hat«, erklärte Mirana, um Mara die Verwirrung zu nehmen.
Die Gestalt im Umhang kam näher, und der Mantel des Magiers blitzte auf und funkelte, so daß die mit kostbaren, seltenen Silberpailletten verzierten Bordüren sichtbar wurden. Die Muster schienen Runen oder Totems darzustellen, komplizierter noch als diejenigen an den Pfosten der Häuser. Mara verbeugte sich mit dem gleichen Respekt, den sie einem Erhabenen gezollt hätte, wenn er ihr Anwesen besuchte.
Der thurilische Magier erwiderte den Gruß nur, indem er sich mit einer verwelkten Hand die gewaltige Kapuze herunterzog. Vor Maras Augen wurde eine silberne Mähne sichtbar, wie Miranas Haare zu Zöpfen geflochten, aber in einer rituellen Weise zusammengebunden. Unter diesem Geflecht, das einer Krone glich, erschien das bejahrte Gesicht eines alten Weibes.
Eine Frau! Jeden Anstand vergessend, keuchte die Lady der Acoma: »Eure Versammlung gewährt Frauen die Teilnahme?«
Die alte Frau warf ihren Kopf unter lautem Klirren der Ohrringe zurück; sie schien bedrohlich verärgert. »In diesem Land gibt es – den Göttern sei Dank – nichts, das Eurer Versammlung ähnelt, Mara von den Acoma.«
Zwei Städterinnen erschienen an der Tür der Bäckerei, um eine letzte Besorgung zu erledigen. Beim Eintreten erspähten sie die Magierin, verbeugten sich hastig und ehrerbietig und liefen schweigend zurück auf die Straße. Ein junger Mann, der direkt hinter ihnen kam, drehte sich auf dem Absatz um und eilte davon. Die Flügeltür aus Tierhaut klappte zu, doch dem Raum schien jede Wärme entzogen zu sein.
»Verzeiht«, murmelte Mara. »Lady Kaliane, es tut mir leid, aber ich hätte nie gedacht –«
»Ich habe keinen Titel. Ihr könnt mich als Kaliane ansprechen«, blaffte das alte Weib und nahm mit rauschenden Gewändern Platz. Sie richtete die langen Ärmel und faltete die kleinen Hände; plötzlich sah sie sehr menschlich und traurig aus. »Ich weiß, daß die Versammlung des Kaiserreiches« – sie spie das Wort förmlich aus – »alle Mädchen tötet, bei denen ein solches Talent entdeckt wird. Meine Vorgängerin in diesem Amt war aus der Provinz Lash geflohen und nur knapp mit dem Leben davongekommen. Ihre drei Schwestern hatten nicht so viel Glück.«
Mara war leicht übel von der Anstrengung und dem Wein, der sich mit ihren Sorgen nicht gut vertrug. Sie biß sich auf die Lippen. »Ein Magier von niederem Rang, der die Versammlung haßte, berichtete mir so etwas. Doch tief in meinem Innern konnte ich es wohl nicht glauben.«
Die Augen der Kaliane waren tief und dunkel, als sie Mara intensiv in die Augen blickte. »Glaubt es, denn es ist wahr.«
Mara zitterte, als eine neue Furcht um die zurückgelassene Familie sie ergriff, und sie biß die Zähne zusammen, um sie am Klappern zu hindern. Obwohl die Kaliane schlank war und sich wie eine betagte Großmutter mit vielen Schichten Stoff gegen die Zugluft geschützt hatte, strahlte ihre Gegenwart eine Kraft aus, die schärfer war als jeder Frost im
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