Tag der Entscheidung
vom Ufer. Eine der winzigen Gestalten am Ufer zeigte auf sie, und dann folgten laute Schreie von der Armee, die sich versammelt hatte und damit beschäftigt war, die Boote zu besteigen. Der Lärm wurde zu jubelndem Gesang, und Mara hörte immer wieder ihren Namen, zusammen mit dem Titel, den der Kaiser ihr gegeben hatte: Gute Dienerin des Kaiserreiches! Gute Dienerin des Kaiserreiches! Sie begann beinahe zu weinen, als sie sah, wie stürmisch ihre Untertanen sich über ihre Rückkehr freuten, obwohl bereits neue Gefahren drohten.
Der Bootsmeister schrie sich derweil die Kehle mit wilden Befehlen heiser, und langsam wurde sein Gefährt in die Lücke gestakt, die sich hastig am vollbepackten Dock bildete, um Mara hereinzulassen. Eine Gestalt in einer verkratzten blauen Rüstung bahnte sich einen Weg durch die Menge. Unter dem haubenartigen Helm, an dem sie erkannte, daß er dem Lord der Shinzawai gehörte, erkannte die Lady Hokanus Gesicht, auf dem Besorgnis und Freude damit kämpften, die angemessene tsuranische Beherrschung zu durchbrechen.
Es war ein ausreichendes Zeichen für bevorstehendes Blutvergießen, daß ihr Mann seine mitgenommene, von der Sonne verblichene Schlachtrüstung trug und nicht die dekorative Zeremonienrüstung für staatliche Anlässe. Lords marschierten nur bei wichtigen Gefechten mit ihren Truppen. Doch nach fast einem halben Jahr Abwesenheit achtete Mara kaum darauf. Sie konnte sich nicht die Zeit für eine formale Begrüßung lassen, sondern rannte in dem Augenblick los, da der Landungssteg die Lücke vom Schiff zum Dock überspannte. Wie ein junges Mädchen rauschte sie vor ihren Offizieren davon und warf sich kopfüber in die Arme ihres Mannes.
Als hätte sie nicht einen Bruch der angemessenen Haltung begangen, drückte Hokanu sie fest an sich. »Die Götter seien gesegnet für deine Rückkehr«, flüsterte er in ihr Haar.
»Hokanu«, erwiderte Mara, die Wange gegen die unnachgiebige Wölbung der Brustplatte gepreßt, »wie sehr habe ich dich vermißt!« Und dann beeinträchtigten die augenblicklichen Sorgen ihr Wiedersehen, fand ihr Freudensdrang ein jähes Ende, als sie sich an die Abwesenheit ihrer Kleinen erinnerte. »Hokanu! Was ist passiert? Wo sind die Kinder?«
Hokanu drückte sie sanft ein wenig von sich weg, und seine dunklen, besorgten Augen schienen im Anblick ihres Gesichts ertrinken zu wollen. Sie war so dünn und sonnengebräunt und energiegeladen! Sein Verlangen, sich einfach nur nach ihrer Gesundheit zu erkundigen, stand ihm schmerzhaft im Gesicht. Doch die erstickte Panik hinter ihrer Frage verlangte nach einer Antwort. Die Dringlichkeit stritt mit Hokanus angeborenem Takt, und am Ende entschied er sich für Direktheit. »Justin und Kasuma sind bisher noch in Sicherheit. Sie sind im Kaiserlichen Palast, doch es gibt schlimme Neuigkeiten.« Er holte schnell Luft, um sich zu wappnen und ihr Zeit zu geben, sich vorzubereiten. »Mara, das Licht des Himmels ist ermordet worden.«
Mara fuhr zurück, als hätte sie jemand physisch aus dem Gleichgewicht gebracht, doch Hokanus flinke Hand bewahrte sie davor, nach hinten in den See zu fallen. Vor Schock wich jedes bißchen Blut aus ihrem Gesicht. Bei allen unangenehmen Dingen, die sich während ihrer Abwesenheit hätten ereignen können, nach all den Gefahren, denen sie entkommen war, um die Magier Chakahas nach Tsuranuanni zu bringen, hätte sie niemals mit dem Tod des Kaisers gerechnet. Irgendwie raffte sie genug Geistesgegenwart zusammen und fragte: »Wie?«
Hokanu schüttelte nur unglücklich den Kopf. »Die Nachricht traf gerade erst ein. Offensichtlich hat ein Omechan-Cousin gestern an einem kleinen kaiserlichen Essen teilgenommen. Er hieß Lojawa und stach Ichindar vor dreißig Zeugen mit einem vergifteten Tischmesser in die Kehle. Die Phiole mit dem Gift muß er im Saum seiner Robe versteckt haben. Innerhalb weniger Minuten erschien ein Priester, aber jede Hilfe kam zu spät.« Ruhig fuhr Hokanu fort: »Das Gift wirkte sehr rasch.«
Mara bebte, sie war vollkommen verstört. Diese Grausamkeit schien unmöglich! Daß der schlanke, würdige Mann, der auf dem Goldenen Thron gesessen hatte, den die Sorgen zu einem vergrämten Menschen gemacht hatten, beinahe zum Wahnsinn getrieben durch die Streite unter seinen vielen Frauen, niemals wieder eine Audienz in seiner großen Halle abhalten sollte! Mara spürte große Trauer. Niemals mehr würde sie ihm in seinen von Lampen erleuchteten Privatgemächern ihren Rat anbieten
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