Tag der Entscheidung
können oder den trockenen und sanften Verstand des Mannes genießen. Er war ein ernster Mann gewesen, der tiefen Anteil an seinen Leuten nahm und unter der vernichtenden Bürde seiner Herrschaft häufig sorglos mit seiner Gesundheit umging. Es war Maras Freude gewesen, ihn zum Lachen zu bringen, und manchmal hatten die Götter ihr einigen Erfolg beschert und seinem Sinn für Humor freien Lauf gelassen. Ichindar war für sie nie eine solche Lichtgestalt gewesen wie für die Massen, die er regierte. Denn bei all dem Pomp, den sein Amt erforderte – damit er den Nationen immer wie das Abbild eines Gottes auf Erden erschien –, war er ein Freund gewesen. Sein Verlust war überwältigend. Hätte er nicht den Mut gehabt und die Gelegenheit ergriffen, sein eigenes Glück für die Bürde absoluter Herrschaft zu opfern, wäre keiner der Träume, die Mara nach Thuril geführt hatten, jemals mehr als bloße Phantasie gewesen.
Die Lady der Acoma fühlte sich merkwürdig, zu mitgenommen, um hinter den Horizont der persönlichen Trauer zu blicken. Und doch erinnerte sie der Druck von Hokanus Fingern auf ihren Schultern daran, daß sie genau das mußte. Diese Tragödie würde schreckliche Auswirkungen haben, und wenn der vereinigte Haushalt der Acoma und Shinzawai nicht untergehen wollte, würde sie sich den neuen politischen Gegebenheiten anpassen müssen.
Sie griff zuerst den Namen auf, den Hokanu erwähnt hatte, der ihr noch vollkommen fremd war. »Lojawa?« Bestürzung durchbrach ihre tsuranische Fassade. »Ich kenne ihn nicht. Du sagst, er ist ein Omechan?« Verzweifelt erhoffte sie eine Antwort von ihrem Mann, dessen Berater in den jüngsten Ereignissen bewandert waren und wahrscheinlich einige Theorien anzubieten hatten. »Was für ein Grund könnte einen Omechan zu einer solchen Handlung getrieben haben? Von allen großen Familien, die danach streben, daß das Amt des Kriegsherrn wieder eingeführt wird, sind die Omechan am weitesten davon entfernt, selbst nach dem Weiß und Gold zu greifen. Sechs andere Häuser würden ihre Kandidaten auf den Thron bringen, bevor ein Omechan …«
»Die Nachrichten kamen gerade erst«, wiederholte Hokanu. Er gab einem wartenden Befehlshaber ein Zeichen, die Truppen weiter in die Boote zu schaffen. Über dem Stampfen der beschlagenen Schlachtsandalen auf dem Dock wandte er sich wieder an Mara. »Incomo hatte noch keine Zeit, die Einzelheiten vernünftig zu deuten.«
»Nein, nicht das Amt des Kriegsherrn«, unterbrach Saric, zu sehr angefeuert von einer plötzlichen Einsicht, um das Protokoll einzuhalten.
Mara warf den Kopf herum, heftete ihren Blick auf ihn und flüsterte dann: »Nein. Ihr habt recht. Nicht das Amt des Kriegsherrn.« Ihr Gesicht wurde jetzt leichenblaß. »Der Goldene Thron selbst ist jetzt der Preis!«
Die gekrümmte, grauhaarige Gestalt, die sich durch die Menge hindurch bis zu Hokanus Seite den Weg bahnte, hörte dies. Incomo sah zerzaust aus, seine Augen waren rotumrändert, und er hatte noch mehr Altersfalten, als Mara in Erinnerung hatte. Die momentanen Sorgen gaben ihm etwas Nörglerisches. »Aber es gibt keinen kaiserlichen Sohn.«
Saric beeilte sich, dies zu korrigieren. »Wer immer die Hand von Ichindars ältester Tochter Jehilia erhält, wird der zweiundneunzigste Kaiser von Tsuranuanni! Ein Mädchen von kaum zwölf Jahren ist jetzt Erbin des Throns. Jeder von rund hundert kaiserlichen Cousins im Besitz einer Kriegsarmee, um die Mauern des Kaiserlichen Palastes zu stürmen, könnte versuchen, sie zu einer Heirat zu zwingen!«
»Jiro!« schrie Mara. »Dieser Streich ist brillant! Warum sonst hätte er all die Jahre heimlich Belagerungsmaschinen studieren und bauen sollen? Das ist der Plan, an dem er schon lange arbeiten muß!« Dies bedeutete, daß ihre Kinder nicht nur nicht sicher waren, sondern sich in höchster Lebensgefahr befanden, denn wenn die Anasati mit ihren Armeen in den Kaiserlichen Palast eindrangen, war jedes Kind mit einer Verbindung zum kaiserlichen Geschlecht gefährdet.
Ihr entsetztes Schweigen interpretierend, rief Saric aus: »Götter, Justin!«
Mara unterdrückte die Panik, als ihr Berater die Grausamkeit verstand. Selbst ihre größte Ehre arbeitete jetzt gegen sie: Als Gute Dienerin war sie formal in Ichindars Familie adoptiert worden. Nach Gesetz und Tradition war ihr Sohn ein legitimer Abkömmling kaiserlichen Blutes. Nicht nur waren ihre Nachkommen zu entsprechenden Privilegien berechtigt, sondern als kaiserlicher Neffe und
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