Tag der geschlossenen Tür
Mutter. Hinter einer Hausecke stoßen sie auf ihn. Der Täter ist ein stadtbekannter Terrorist, er eröffnet sofort das Feuer mit einer Maschinenpistole, mehrere Passanten kommen spontan ums Leben. Kinder schreien. Das mögen die Polizisten nicht, sie schlagen die Kinder mit ihren Gummiknüppeln, damit sie leise sind. Schreiend vor Wut, kommen die Mütter von den Kindern angerannt. Die Polizisten schießen auf den Täter und die Mütter, es kommt zu mehreren Explosionen. Durch diese unglückliche Verkettung von Ereignissen ergibt sich ein Krisenzustand in dem Viertel, und bis zum Abend kommen noch viele Menschen ums Leben.
Ich lese mir das Ende immer wieder durch, bin aber nicht richtig zufrieden. Komisches nüchternes Ende. Auf einmal ist die ganze Spannung weg. Aber vielleicht ist gerade das gut so? Ich muss den Text ruhen lassen. Wie einen frischen Käse. Wenn er sich abgesetzt hat, zeigt sich, was er wert ist.
Man wird sich bei euch entschuldigen
I ch habe gestern den Text an die Redaktion gemailt. Heute Morgen kam eine Antwortmail:
Lieber Sonntag. Was soll das denn für ein Kolumnentext sein? Ich weiß nicht, ob ich das bei Breuer durchbekomme. Ich verstehe den Text auch nicht so richtig. Worum geht’s? Soll das eine Anklage gegen den Polizeistaat sein? Eine Beschreibung der Unfähigkeit der Eltern von heute? Ich glaube manchmal, dass Du Probleme hast. Da ist immer so viel Aggression in Deinen Texten. Wenn Breuer den Text ablehnt, musst Du Dir was Neues überlegen, sonst wird Dein Stuhl langsam sehr heiß.
Ich meine es gut mit Dir, das weißt Du ja.
Gruß Susanne
Susanne. Die fremde und mir doch vertraute Susanne. Ich habe sie noch nie gesehen. Ob sie wohl weiß, wie ich aussehe? Sie meint es gut mit mir – schreibt sie. Das rührt mich an. Und dann ausgerechnet sie. Diese verbindliche, gesichts- und tonlose Stimme, die mir stets als Einzige antwortet, mit der ich einen regelmäßigen Mailverkehr habe, weil sie die Meinung der Stadtzeitschrift repräsentiert. Ob sie es ernst meint? Ich dachte, ich wäre ihr egal. Oder will sie einfach nur für Ruhe im Betrieb sorgen? Dafür sorgen, dass sie sich nicht nach einem neuen Kolumnisten umsehen muss? Ich würde sie gerne einmal kennenlernen. Aber wie soll ich das anstellen? Vielleicht sollte ich über die nächste Kolumne Kontakt mit ihr aufnehmen? Oder wäre das zu plump? Wird sie mich weiter vor dem Chefredakteur schützen, auch wenn ich die Texte immer bizarrer ausfallen lasse? Und wenn der Chefredakteur mich tatsächlich nicht mehr will, was soll ich tun? Ich kann nur meinem inneren Vakuum folgen, mehr geht halt nicht. Trotzdem fühle ich mich zornig. Ich fühle mich verletzt. Und ich möchte, dass sich jemand bei mir entschuldigt. Ich ziehe mich an und verlasse die Wohnung. Lasse mich langsam durch das Viertel treiben. Suche nach einem günstigen Ort für eine Entschuldigung. Am Gemüsestand von Gemüse-Günni bleibe ich stehen und warte. Warte auf die richtigen Kunden. Ein paar Omas kaufen Obst ein. Ich drücke mich vor einer Kiste Pflaumen herum, die auf einem Podest steht. Nach einiger Zeit sehe ich eine junge, szenige Mutter mit einem Kinderwagen herannahen. Sie hat sich mit einer Mischung aus Secondhandklamotten und Markenaccessoires durchdesignt und schiebt ihren Mutterstolz durch das Viertel. Sie fixiert die Obstkisten, schiebt ihre Louis-Vuitton-Sonnenbrille ins blonde, hochgesteckte Haar, dreht den Kinderwagen um, zieht ihn hinter sich her, um besser an das Obst zu kommen. Ich stehe hinter ihr. Als sie mir nahe kommt, bücke ich mich und tue so, als würde ich meine Schnürsenkel binden. Ich achte darauf, dass sie mich nicht bemerkt, und harre aus. Mit einem kleinen Schritt zurück hat sie mich erreicht, und bei der ersten Berührung lasse ich mich bereitwillig nach vorn in die Pflaumenkisten fallen, rudere dabei mit den Armen, versuche mich festzuhalten, schaffe es nicht und breche mitsamt den Kisten auf dem Bürgersteig zusammen. Die Mutter dreht sich erschrocken um, ich stöhne auf vor Schmerzen, sie ist rat- und hilflos. Ich bleibe verrenkt liegen. So, das habt ihr alle jetzt davon. Leute beobachten uns. Ich schaue in das vor Scham erstarrte Gesicht der jungen Frau, sie bückt sich, versucht mich ungelenk aus dem Trümmerhaufen zu befreien, bei jeder Bewegung, die ich mache, stöhne ich verletzt auf. Schließlich stehe ich wieder. Gemüse-Günni ist aus seinem Laden gekommen und sieht sich die Szene genervt an.
»Es tut
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