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Tag der Vergeltung

Tag der Vergeltung

Titel: Tag der Vergeltung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liad Shoham
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diesen Fall bis zum Ende durchzuziehen. Schließlich hatten sie sich bei anderen Fällen gegenübergestanden: Ein Angsthase war er gewiss nicht. Aus seiner Sicht wäre es das Gescheiteste und Selbstverständlichste, die Anklage abzuwarten, um sich von ihren Problemen ein Bild zu machen. Und nun ließ er sich auf ein Strafmaß ein, trotz allem.
    »Dennoch wird die Staatsanwaltschaft in Erklärungsnot geraten, wohin auf einmal der Täter verschwunden ist und wie es sein kann, dass nur eine Anklageschrift wegen gefährlicher Körperverletzung eingereicht wurde, ohne den sexuellen Kontakt nur im Mindesten zu erwähnen.« Er ließ nicht locker.
    »Seitenhiebe von den Medien sind wir gewohnt. Das wird vorübergehen. Unangenehm, aber es wird vorübergehen«, sagte sie und erhob sich, um die Unterredung zu beenden. Je mehr er sie ausfragen würde und in dem Fall herumwühlte, desto mehr würde sie sich verheddern. Womöglich würde er den Deal sogar rückgängig machen wollen und sie wäre geliefert.
    Er stand ebenfalls auf.
    Er hatte einen kräftigen, herzlichen Händedruck. Sollte sie ihm vielleicht doch vorschlagen, mit ihr einen Kaffee zu trinken? Sie riss sich am Riemen.
    »Lassen Sie mir eine Kopie von der Anklageschrift zukommen?«, fragte er, und wenn sie nicht alles täuschte, hielt er ihre Hand ein wenig länger als nötig.
    »Klar«, lächelte sie und zog die Hand zurück. »Morgen. Vielleicht komme ich sogar heute noch dazu.«
    Keiner von ihnen sprach darüber, was sich vor dem Richter abspielen würde. In einem Strafprozess ein Strafmaß auszuhandeln war etwas anderes als die Vergleiche, die in Zivilprozessen geschlossen wurden. Das Gericht musste sich nicht darauf einlassen. Doch für Rechtsanwälte, die schon einige Berufsjahre hinter sich hatten, war es absehbar: Hier würde dem vereinbarten Strafmaß zugestimmt werden. Der Richter würde vielleicht die Stirn runzeln, möglicherweise ein oder zwei Fragen stellen. Es gab Richter, die gern für ein wenig Hintergrundmusik sorgten, die Staatsanwaltschaft und Verteidigern gern ein wenig einheizten, ihnen ins Gedächtnis rufen wollten, dass sie kein Stempelkissen waren. Doch auch sie segneten letztlich ab, was ihnen serviert wurde.
    Im Strafrecht endete ein beträchtlicher Teil der Fälle mit einer Vereinbarung über das Strafmaß. Ohne Zeugen, die sich zu Wort meldeten, ohne Angeklagte, die sich äußerten, ohne Richter, die sich auf die Analyse der Beweise und juristischen Fragen stützten und sich daraufhin für das eine oder andere entschieden. Der Gedanke daran deprimierte sie. Die berühmte Statistik, über die in den Zeitungen über die hohe Prozentzahl an Schuldigsprechungen im Strafrecht zu lesen war, machte sie wütend. Die meisten dieser Schuldigsprechungen kamen durch Verhandlungen über das Strafmaß zustande. Und da man bei diesen Regelungen Kompromisse und Zugeständnisse machte, um Zeit zu sparen, bekam ein großer Teil der Verurteilten bedeutend weniger, als sie verdient hatten.
    Doch so war das Leben. Ohne diese Einigungen auf ein Strafmaß würde das Rechtssystem zusammenbrechen. Daher würde dieser Deal ohne Weiteres durchgehen und keiner würde erfahren, was in diesem Raum stattgefunden hatte – und um die Wahrheit zu sagen, es würde auch keinen kümmern.
    In Kürze würde Nevo entlassen. Ihr fielen wieder Eli Nachums Worte ein: »Schlagen Sie zumindest eine Freiheitsstrafe auf Bewährung heraus für die nächste Vergewaltigung, die er begeht.«
    Hatte sie gerade dazu beigetragen, einen Vergewaltiger freizulassen?

22
    Amit Giladi war in Rage. Im Fall von Adi Regev war ein Strafmaß ausgehandelt worden. Was sollte dieser Quatsch? »Gefährliche Körperverletzung«? Immerhin ging es hier um Vergewaltigung! Obwohl er Himmel und Hölle in Bewegung setzte, wollten alle Gras über die Sache wachsen lassen. Weder die Polizei noch die Staatsanwaltschaft oder der Verteidiger des Angeklagten wollte mit ihm auch nur ein Wort wechseln. Stumm wie Fische waren sie. Dieser Zusammenschluss zu einem Trappistenkloster ließ ihn noch misstrauischer werden. Im Laufe seiner kurzen Karriere als Journalist hatte er mitbekommen, dass Leute gern quasselten, klatschten, Kritik übten. Und hier – nichts dergleichen.
    Er war von vornherein nicht begeistert gewesen, auf die Vergewaltigung von Adi Regev angesetzt zu werden. Wegen solcher Dinge hatte er sich gewiss nicht für den Journalismus entschieden. Das fiel nicht in die Kategorie Enthüllungsjournalismus, aber

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