Tag der Vergeltung
Regev vergewaltigt hatte oder nicht.
Immerzu beklagte er sich über die hohe Zahl der Schuldigsprechungen in Israel, ständig erlitten sie als Verteidiger Niederlagen – und nun hatte er schon mal einen Mandanten, der höchstwahrscheinlich unschuldig war, und da wusste er keinen Rat. Was war mit ihm los? Noch vor einigen Jahren hätte er sich auf einen solchen Fall gestürzt, hätte sich in ihn verbissen, nicht von ihm abgelassen, bis er restlos geklärt hätte, was in Nevo vorging. Auch einer Haftverlängerung hätte er nicht so leicht zugestimmt. Er war noch jung, dreiunddreißig. Aber schon müde. Dieser Beruf ging an seine Substanz. Wie hatte er in dieser kurzen Zeit wie sein Vater werden können?
* * *
»Wie will Ihr Mandant diesen Fall beenden?«, fragte ihn Galith Lavi und ihre ernste Miene signalisierte ihm, jetzt würden sie Tacheles reden.
»Wenn ich mich nicht irre, waren Sie es, die mich sprechen wollte, nicht umgekehrt«, warf er ihr den Ball zu. Ausgesprochen worden war es zwar nicht, doch er konnte riechen, dass Vater Staat bei diesem Fall ein ernsthaftes Problem hatte. Deshalb hatte sie ihn einbestellt. Hätten sie kein Problem, hätten sie eine Anklageschrift verfasst, und es käme zu einem regulären Gerichtsprozess mit anschließendem Urteil. Erst recht bei Galith Lavi.
Sie blieb stumm wie ein Fisch, schmunzelte ihn nur an.
»Frau Lavi, gibt es etwa Probleme mit der Beweislage? Hat das Opfer seine Aussage revidiert? Sind überraschende DNA-Spuren aus dem Labor eingetroffen?« Er beschloss, die Dinge auf den Tisch zu legen.
»Wir plädieren für zwei Jahre Haft«, wich sie ihm aus.
Was ging hier vor? Für eine Vergewaltigung war das eine viel zu niedrige Strafe. Außerdem hatte sie ihm nicht auf seine Fragen geantwortet. An diesem Punkt hätte er bei jedem anderen Fall die Verhandlungen abgebrochen. Hier konnte er jedoch einen Einsatz wagen. Sollte das hier das Eröffnungsangebot der Staatsanwaltschaft sein, käme sie ihm wohl noch mehr entgegen. Sobald sie Anklage einreichten, würde er Einsicht in das gesamte Beweismaterial erhalten, und dann würden sich ihm sämtliche Probleme erschließen, die sie ihm momentan vorenthielt. Nur hatte er von seinem Mandanten die ausdrückliche Anweisung, noch heute, bei diesem Treffen, seine Schuld zu gestehen.
Sie sah ihn gespannt an. Je mehr Bedenkzeit er sich herausnahm, desto merkwürdiger kam ihm das Ganze vor. Was wusste sie? Woran mangelte es ihr bei diesem Fall? Als er neu in dem Job gewesen war, hatte er noch gedacht, dass die Staatsanwaltschaft als öffentliche Institution keine Hintergedanken hege, dass es ihr um die Wahrheit ginge, nicht um die Zahl der Schuldigsprechungen. Heute war er weniger naiv. So wie Verteidiger waren auch Staatsanwälte hin und wieder bestechlich. Zweifelsfrei spielte die Zahl der Schuldigsprechungen, die jeder von ihnen durchsetzen konnte, eine Rolle. Keiner wollte verlieren, ins Büro zurückkehren und vor Kollegen und Vorgesetzten mit einem schlechten Ergebnis dastehen.
»Ein halbes Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung«, hörte er sich schließlich sagen.
»Für eine Vergewaltigung?« Sie hob die Augenbrauen. »Nun aber mal im Ernst.«
»Dann war es eben gefährliche Körperverletzung«, erwiderte er.
»Aber er hat sie vergewaltigt!«, sagte sie sichtlich aufgebracht.
»Wenn die Staatsanwaltschaft so sicher wäre, säßen wir jetzt nicht hier, oder?«, fragte er trotzig.
»Wäre Ihr Mandant von seiner Unschuld überzeugt, würden Sie auf einen Gerichtsprozess dringen. Sie würden mein Angebot, ohne mit der Wimper zu zucken, ablehnen, oder irre ich mich?«
Sie saßen sich gegenüber, schweigend, wie zwei Spieler beim Poker, kurz bevor sie ihre Karten präsentieren. Nur ging es hier nicht um Geld – die Freiheit eines Menschen stand auf dem Spiel.
»Gehen Sie etwa während der Arbeit joggen?«, fragte er, um die Spannung zu lösen, und deutete mit einer Kopfbewegung auf ein Paar rote Turnschuhe, die unter dem großen Aktenschrank standen. »Momentan gehe ich zu Fuß zur Arbeit. Mein Auto ist bei meinem großen Bruder. Er ist mit seiner Frau zu Besuch in der Heimat.« Sie hatte ein bezauberndes Lächeln, wieder kam ihm sein Traum in den Sinn.
»Also was machen wir?«, fragte er und holte sich in die Realität zurück.
»Gefährliche Körperverletzung, zwei Jahre Freiheitsstrafe auf Bewährung mit Anrechnung seiner Tage in Untersuchungshaft«, antwortete sie.
Er hatte sich nicht geirrt. Sie hatten bei
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