Tag der Vergeltung
Er durfte keine Zeit vergeuden, jede Minute war Gold wert.
Ziv Nevo war der Täter, das lag für ihn auf der Hand. Auch bei dem Gespräch mit Navon war klar gewesen, dass die Identität des Verbrechers bekannt war. Er musste ihn nur noch verhaften, ein wenig vernehmen, ein Geständnis aus ihm herauskitzeln und die Anklage vorbereiten. Wieso sollte es Zweifel geben? In beiden Vergewaltigungsfällen war die gleiche Vorgehensweise erkennbar, zwischen den Opfern bestand Ähnlichkeit, die Tatorte lagen nah beieinander. Und schließlich hatte Nevo schon gestanden, Adi Regev angegriffen zu haben. Nur weil Eli sich diese Patzer geleistet hatte, war er freigelassen worden. Die zügige Freilassung trotz erdrückender Beweislage war Nevo wohl zu Kopf gestiegen, er hatte sich mächtig und sicher gefühlt. Bestimmt hatte er gemeint, Immunität zu genießen, tun und lassen zu können, was ihm in den Sinn kam, ohne dafür büßen zu müssen.
»Nevo ist nicht zu Hause«, hörte er den Mann sagen, den er zu Nevos Wohnung geschickt hatte.
»Habt ihr es bei der Exfrau versucht?« Er hatte bereits damit gerechnet, Nevo nicht in seiner Wohnung anzutreffen, daher hatte er angewiesen, ihn auch bei ihr zu suchen. Zumindest wüsste sie, wo er sich aufhielt, so hatte er gehofft, immerhin hatten sie einen gemeinsamen Sohn.
»Da ist er auch nicht«, antwortete der Kollege.
»Weiß sie, wo er ist? Von mir aus könnt ihr sie auch festnehmen!«, rief er in das Handy.
»Keiner da. In ihrer Wohnung ist auch niemand.«
29
Amit Giladi hetzte die Krankenhausgänge entlang. Es war erst fünf Uhr nachmittags, trotzdem war es hier so gut wie menschenleer. Seine Schritte hallten auf dem Gang und steigerten sein Unbehagen nur noch mehr. Das Desinfektionsmittel stieg ihm in die Nase und erinnerte ihn an das letzte Mal, als er hier gewesen war: Sein Großvater hatte auf der Inneren wegen einer Grippe gelegen, die sich zu einer schweren Lungenentzündung ausgeweitet hatte. Drei Tage nach seinem Besuch war der Großvater gestorben.
Wenn er könnte, würde er auf dem Absatz kehrtmachen und von hier abhauen. Nichts hatte ihn hierhergezogen, aber Dori hatte ihm keine Wahl gelassen. Beim letzten Mal war es ihm irgendwie gelungen, sich vor einem Interview mit Adi Regev unmittelbar nach der Vergewaltigung zu drücken. Dori war damals von der Idee wieder abgekommen, doch diesmal nicht.
Kommissar Ohad Bar-El, Eli Nachums Nachfolger, hatte ihm gesagt, wo er sie finden würde. Als er vor der Intensivstation ankam, wusste er sofort, dass sie es waren. Die Eltern von Dana Aronov saßen im Warteraum, umarmten sich, hielten sich die Hände.
Es sei Teil des Jobs, hatte Dori zu ihm gesagt. »Wenn Soldaten fallen, sind ihre Fotos am nächsten Tag in der Zeitung. Was meinst du, woher die kommen? Wer klopft bei den Eltern an die Tür?«, hatte er ihm klargemacht.
Er ging auf sie zu. Der Vater blickte ihn flüchtig an, senkte dann wieder den Kopf und fixierte irgendeinen Punkt auf dem Fußboden. Er musste sich aufraffen, die Sache schnell hinter sich bringen.
»Verzeihen Sie«, sprach er sie mit ruhiger Stimme an.
Sie hoben fast gleichzeitig den Blick. Auf der Hinfahrt hatte er den Plan gefasst, sich als zufälliger Besucher auszugeben, dessen Verwandter auf der Station liege. Im Anschluss hatte er sie in ein Gespräch verwickeln wollen, in dem sie Dinge preisgeben würden, die er veröffentlichen könnte, doch nun, als er vor ihnen stand, wurde ihm klar, dass er sie nicht anlügen konnte.
»Mein Name ist Amit Giladi, ich bin Journalist.«
Sie sahen ihn an und blieben stumm. Vielleicht verstanden sie kein Hebräisch? Selbst wenn ihm der Familienname »Aronov« nicht geläufig gewesen wäre, hätte er an ihrer Kleidung erkannt, dass sie nicht in Israel geboren waren.
Er wiederholte es langsamer.
»Ich möchte Sie dringend ersuchen zu gehen«, unterbrach ihn der Vater. Trotz seines schweren Akzents war sein Hebräisch makellos.
Amit rührte sich nicht von der Stelle. Im Laufe seiner kurzen Karriere hatte er nicht nur ein Mal vor Leuten gestanden, die ihn darum baten, sich aus dem Staub zu machen, Leine zu ziehen, zu verschwinden – Leute hatten ihn als Plage empfunden. Doch sein Job war es, zu bleiben, an die Story heranzukommen.
»Ist Ihnen bekannt, dass derjenige, der Ihrer Tochter das angetan hat, zunächst in Haft war und wegen Justizfehlern wieder freigelassen wurde?« Er musste ihr Vertrauen gewinnen. Wenn sie erfahren würden, dass sie und er einen
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