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Tag der Vergeltung

Tag der Vergeltung

Titel: Tag der Vergeltung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liad Shoham
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Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Stille zog in die Wohnung ein. »Eine weitere brutale Vergewaltigung im Norden von Tel Aviv«, »juristische Verwicklungen« – die Worte hallten in ihrem Kopf wider.
    Ihr war speiübel. Das Müsli und der Joghurt vom Frühstück stiegen ihr die Kehle hinauf. Sie rannte zur Toilette und übergab sich. Daraufhin jagte eine Welle Brechreiz die nächste. Er ließ sich nicht unterdrücken, ebensowenig die Flut an Tränen.
    Irgendwann erhob sie sich vom Fußboden und auf dem Weg zum Wohnzimmer betrachtete sie ihr Spiegelbild: Die Augenlider waren vom Weinen geschwollen, ihr Gesicht war von Flecken überzogen, das Haar durcheinander. Obwohl es schon zwei Monate her war und sie sich Hunderte Male geduscht hatte, meinte sie, wieder mit seinem Geruch behaftet zu sein, er breitete sich aus wie eine Krankheit.
    Sie eilte ins Badezimmer und riss sich die Kleider vom Leib. Genau wie in jener Nacht stellte sie sich unter das strömende Wasser, seifte sich akribisch von Kopf bis Fuß ein und weinte.
    Die letzte Begegnung mit Eli Nachum kam ihr in den Sinn: »Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn er auf freien Fuß kommt und wieder eine Frau vergewaltigt. Wie werden Sie sich dann fühlen?« Sie hatte eine entsetzliche Wut auf ihn gehabt und auf Durchzug geschaltet. Auch die Staatsanwältin hatte sie gebeten, eine weitere Vergewaltigung in Betracht zu ziehen, doch deren Bedenken hatte sie ebenfalls ignoriert.
    Was hatte sie getan? Was hatte sie nur getan? Sie stand unter dem Wasserstrahl und ließ ihrem Schmerz und den Tränen freien Lauf.
    Irgendwann stieg sie aus der Dusche und legte sich aufs Bett. Alle hatten sie bekniet, die Identifizierung des Täters nicht zu widerrufen. Doch sie hatte sich geweigert, auf die anderen zu hören. Was für eine verzogene, egoistische Göre sie war. Diese Vergewaltigung ging auf ihre Kappe. Nur einige Straßen weiter lag ein Mädchen, das jetzt blutete, weinte, zitterte – ihretwegen.
    Sie stand auf, ging zum Schreibtisch und nahm Eli Nachums Visitenkarte aus der Schublade. Sie würde ihn um Verzeihung bitten. Alles sei ihre Schuld, würde sie ihm sagen, sie sei jetzt zu allem bereit, würde ihm helfen, so gut sie könne, als Zeugin vor Gericht aussagen, alles, was sie von ihr verlangten.
    Als sie zum Handy griff, sah sie, dass die Eltern sie mehrmals angerufen hatten, während sie unter der Dusche gewesen war. Bestimmt hatten sie die Nachrichten gehört. Mit zitternden Händen gab sie die Nummer auf der Visitenkarte ein.
    Aus dem Hörer drang eine weibliche Stimme.
    »Kann ich Eli Nachum sprechen?«, bat sie.
    »Kriminalkommissar Eli Nachum ist im Urlaub«, lautete die trockene Auskunft.
    »Wann kommt er wieder?« Sie war erstaunt. Urlaub passte nicht zu ihm.
    Die Polizistin räusperte sich. »Das ist vorerst nicht bekannt«, sagte sie schließlich und legte auf.

28
    Kriminalhauptmeister Ohad Bar-El, inzwischen zuständig für die Ermittlungen in dem Vergewaltigungsfall, bekam es mit der Angst zu tun. Lange Zeit hatte er auf diesen Moment gewartet, und nun, da er endlich da war, plagten ihn Zweifel. Vielleicht war er noch nicht so weit, vielleicht würde es ihm nicht gelingen, den Erwartungen gerecht zu werden, die an ihn gestellt wurden. Seine Vorgesetzten, die Medien, ja alle ließen ihn spüren, woher der Wind wehte: Sie wollten Ergebnisse.
    Vor ungefähr einem Jahr hatte ihn Kriminalrat Mosche Navon zu einem Gespräch unter vier Augen in sein Büro bestellt. Nach einem kurzen Geplänkel über seine aktuellen Fälle hatte ihn Navon wissen lassen, dass sie in der Bezirksdirektion mit seiner Arbeit sehr zufrieden seien. Still hatte er in sich hineingelächelt in der Hoffnung, gleich von der ersehnten Beförderung zu erfahren. Doch zu seiner großen Enttäuschung unterrichtete Navon ihn davon, dass sie ihn – trotz ihres guten Willens – nicht befördern könnten, da das Budget gekürzt worden sei und sie zu wenig Stellen hätten. Ohad hatte es geschluckt, aber wenigstens mit ein paar Worten gerechnet, die ihm etwas für die Zukunft garantierten, seine Verwendung während der nächsten Jahre ins Kalkül zogen, irgendetwas, doch Navon schwieg, erhob sich und drückte ihm die Hand – das war’s. Erst an der Tür, kurz bevor er enttäuscht und irritiert ging, klopfte ihm Navon auf die Schulter und sagte: »Bar-El, wir haben große Erwartungen an Sie. Meine Tür steht Ihnen immer offen. Sollte etwas Außergewöhnliches vorfallen, über das Sie

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