Tag der Vergeltung
ihre Grenzen zu haben. Bestimmt setzte das Material im Archiv schon Staub an. Würde er in diesem Fall die Ermittlungen leiten, hätte er sich als Erstes die Akte besorgt, um mehr über die Parallelen zwischen den beiden Fällen zu erfahren.
Er saß in dem Bürosessel, der einst seiner gewesen war, und starrte in die Luft, dachte nach, wie er die Arbeit in diesem Büro Stunden über Stunden gehandhabt hatte. Dieser Ring wollte ihm nicht aus dem Sinn. Vergewaltiger waren ganz unterschiedliche Typen. Gehörte Ziv Nevo zu der Sorte, die sich eine Trophäe mitnahm? Er schaltete den Computer ein.
Stundenlang hatte er Nevo vernommen. In keiner Phase hatte er Anzeichen erkennen können, dass er es mit einem Psychopathen zu tun hatte, für den die Vergewaltigung ein Ritual war, das ihn mit Stolz erfüllte. Im Gegenteil.
Er lehnte sich nach vorn und massierte die Schläfen, um den Kopfschmerz, der ihn nun überkam, ein wenig zu lindern. Doch jetzt, da er es überdachte, fragte er sich, ob Nevo überhaupt zu der Sorte Mann gehörte, der eine zweite Vergewaltigung beging, nachdem er bereits wegen der ersten geschnappt worden war. Ziv Nevo war ein Feigling, und er war nicht originell. Bei einem wie ihm, der einer langen Gefängnisstrafe nur knapp entgangen war, war es fraglich, ob er erneut ein solches Risiko eingehen würde, noch dazu nach so kurzer Zeit. Er war nicht der Typ, der der Polizei die Zunge rausstreckte und sie während der Verfolgung in die Irre führte, und gewiss ließ er keine Trophäen mitgehen.
Er tippte bei Google das Stichwort PCL-R ein. Die Psychopathie-Checkliste war ein Instrument, mit dem persönliche Eigenschaften und Charakteristiken psychopathischen Verhaltens eingeschätzt werden konnten. Er wollte sichergehen, dass er sich richtig erinnerte und nichts übersehen hatte. Sein Schädel brummte. Rasch ging er die Liste mit den Charakteristiken durch. Nevo entsprach keiner davon – zwar war er geschieden, doch hatte er zuvor eine lange, stabile Ehe geführt, er hing an seinem Sohn, hatte sich und seine Familie ernährt. Die Tatsache, dass er Offizier bei den Pionieren gewesen war, zeugte davon, dass er Verantwortung tragen, mit anderen zusammenarbeiten konnte. In der Vernehmung hatte er emotional, keineswegs gleichgültig reagiert, als Junge hatte er sich nicht mit der Polizei angelegt …
Er hielt inne. Am Ende des Gangs quietschten die Fahrstuhltüren und sein Vorgesetzter, Mosche Navon, donnerte in sein Handy. Schnell stand er auf. Hier durfte ihn keiner entdecken. Sollten seine Ermittlungen von Erfolg gekrönt sein, durfte es bei der Polizei niemand spitzkriegen. Wie sollte er Navon seinen Aufenthalt in diesem Büro erklären, das jetzt Ohad gehörte? Ihm konnte er nicht mit der Erklärung kommen, er habe etwas vergessen.
Er fuhr den Computer herunter, machte das Licht aus und verließ schnell den Raum. In wenigen Sekunden würde Navon um die Ecke des Gangs kommen und vor ihm stehen.
* * *
Er musterte sich in dem großen Spiegel, so einen hatten sie drüben bei den Männern nicht. Außerdem waren die Damentoiletten großzügiger geschnitten, sauberer und sie rochen bedeutend besser als die Herrentoiletten am anderen Ende des Gangs. Und sie lagen wesentlich näher an seinem Büro. Von Weitem vernahm er Navon, der mittlerweile ins Telefon schrie. Wie hatte es mit ihm so weit kommen können? Dass er vor seinem Vorgesetzten auf die Damentoilette floh? Was für ein Desaster.
Bis zu jenem Verkehrsunfall bei Netanja hatte er sich bereits damit abgefunden, in der Einsatzmittelverwaltung zu versauern. Doch dann waren einige Kollegen und er zur Wache von Tel Mond unterwegs gewesen, als sich vor ihren Augen ein schrecklicher Unfall ereignet hatte – ein Lkw und ein Pkw waren zusammengeprallt. Der Pkw war auf der Seite gelandet und nahe am Benzintank hatte sich ein Feuer entwickelt, das Fahrzeug stand kurz davor zu explodieren. Er hatte die Schreie der Fahrerin gehört, die im Wagen eingesperrt war. Alle anderen waren zum Unfallort auf Distanz geblieben. Nur er nicht. So wie jetzt hatte er auch damals nicht kapituliert. Er war zu dem Pkw gerannt, hatte die Scheibe eingeschlagen und die Fahrerin herausgezogen. Als »Held« hatten die Schlagzeilen ihn am nächsten Tag bezeichnet. Wie ein Held hatte er sich nicht gefühlt. Wurde ihm eine Aufgabe übertragen oder meinte er, handeln zu müssen, konnte er eben nicht anders – er tat es. Als seine Verdienste vom Leiter der Bezirksdirektion bei einer
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