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Tag des Opritschniks, Der

Tag des Opritschniks, Der

Titel: Tag des Opritschniks, Der Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
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verbeugen uns zum Fürsten hin und folgen dem Alten nach draußen. In Begleitung desselben Hauptmanns wie vorhin laufen wir durch den Flur zurück zum Fahrstuhl.
    »Hör mal, Komjaga, wieso guckt dieser Olegow eigentlich immer so miesepetrig? Hat er Zahnschmerzen oder was?«, fragt mich der Alte.
    »Sagen wir, Seelenschmerzen, mein Ältester. Die Sorge um Russland …«
    »Seelenschmerzen können nicht schaden«, nickt der Alte. »Was hat er denn geschrieben? Entschuldige die Frage, du weißt, ich bin kein Büchermensch.«
    »›Der russische Ofen im 20. Jahrhundert‹. Ein dicker Wälzer. Ich hab ihn nicht bis zu Ende geschafft.«
    »Öfen lob ich mir«, sagt der Alte und seufzt. »Besonders, wenn gefüllte Piroggen in der Röhre liegen … Wohin musst du jetzt?«
    »In den Kremlpalast.«
    »Ah ja!«, nickt er. »Sieh nur genau hin. Diese Hanswürste führen was Neues im Schilde …«
    »Das kriegen wir raus, mein Ältester!«, sage ich und nicke zurück.

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    DER KONZERTSAAL IM KREML hat mich immer begeistert. Schon als ich vor sechsundzwanzig Jahren das erste Mal mit meinen seligen Eltern hier war und »Schwanensee« sah, in der Pause Pfannkuchen mit rotem Kaviar futterte und aus der Kantine auf Papas Faustkeil meinen Freund Pascha anrief, in die riesige Toilette pinkeln ging, auf der Bühne die märchenhaften Ballerinen in ihren schneeweißen Tutus sah … Und jetzt, da meine Schläfen vom ersten Raureif überzogen sind, ist es immer noch so.
    Ein vorzüglicher Saal! Alles an ihm strahlt Festlichkeit aus, für Staatsfeiertage wie gemacht, alles, wie es sein muss. Der Haken ist nur, dass auf der Bühne dieses gewaltigen Saales nicht immer die rechten Dinge vonstattengehen. Staatsfeindliche Umtriebe dringen selbst bis an diesen Ort vor. Aber dafür sind wir ja da, um für Ordnung zu sorgen und die Umtriebe im Keim zu ersticken.
    Wir sitzen im leeren Zuschauerraum. Rechts von mir der Spielleiter. Links der Aufsichtsführende aus der Geheimen Kanzlei. Vor mir Fürst Sobakin aus dem Engsten Kreis. Hinter mir der Tischvorsteher der Kulturkammer. Alles ernstzunehmende, dem Staate verbundene Männer. Auf dem Programm steht das Konzert zum bevorstehenden Festtag. Machtvoll hebt es an, mit brausenden Klängen: Das Lied vom Gossudaren lässt den halbdunklen Saal erbeben. Der Kremlchor macht seine Sache gut. In Russland hat man von jeher zu singen gewusst. Erst recht, wenn der Gesang von Herzen kommt.
    Das Lied verklingt, die wackeren Barden in ihren hübsch bestickten Hemden verneigen sich, die Jungfern in Sarafan und Häubchen tun es ihnen nach. Auch die Weizengarben, regenbogenschillernd, neigen sich uns noch ein wenig mehr zu, auch die Weiden beugen sich noch tiefer über den wie geronnenen Fluss. Über allem eine naturecht strahlende Sonne, man ist geblendet. Das ist gut. Das wird befürwortet. Von uns allen. Der langmähnige Spielleiter ist zufrieden.
    Das nächste Lied handelt von Russland. Auch hier kommen keine Fragen auf. Ein starkes Stück, vielmals erprobt.
    Anschließend ein historisches Tafelbild: die Epoche Iwans III. Raue, schicksalsschwere Zeiten. Ein erbitterter Kampf ist entbrannt um das Heil des Russländischen Staates, der noch jung und ungefestigt ist, eben erst auf die Füße gekommen. Blitz und Donner wüten, die Krieger aus Iwans Heerscharen drängen durch die Bresche, der Metropolit erhebt das Kreuz, auf dem der Widerschein des Feuers flackert – das aufsässige Nowgorod, der Einheit Russlands widerstrebend, wird zur Räson gebracht, die Abtrünnigen fallen auf die Knie, doch ihr Großfürst Iwan Wassilewitsch lässt Gnade walten, sein Schwert rührt nur sachte an ihren schuldig geneigten Häuptern, da er spricht: »Kein Gegner bin ich euch, kein Todfeind. Bin Vater euch, Schutzherr und weiser Pate. Euch und dem ganzen Großen Russenreich.«
    Glocken tönen. Ein Regenbogen spannt sich über Nowgorod und ganz Russland. Vögel zwitschern am Himmel. Die Nowgoroder beugen das Knie, ihre Tränen sind Freudentränen.
    Ein gutes, ein wahres Stück. Nur sollte man die Krieger etwas breitschultriger aussuchen, und der Metropolit könnte ruhig ein bisschen stattlicher sein. Auch gibt es im Hintergrund viel unnütze Zappelei. Und dass die Vögel so niedrig kreisen, lenkt die Aufmerksamkeit vom Wesentlichen ab. Der Spielleiter ist einverstanden mit unseren Bemerkungen, notiert sich etwas in seinen Block.
    Die nächste Nummer blättert eine traurige Seite unserer jüngeren Vergangenheit auf. Sie spielt

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