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Tag des Opritschniks, Der

Tag des Opritschniks, Der

Titel: Tag des Opritschniks, Der Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
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in Moskau zu Zeiten der schlimmen Weißen Wirren, auf dem Platz mit den drei Bahnhöfen. Wir sehen das einfache Volk dort stehen, das die trüben Wogen der Geschichte aus seinen Häusern auf diesen Platz gespült haben, es ist gezwungen, für das Stück Brot, welches die schändlichen Machthaber ihm genommen, sein letztes Hab und Gut feilzubieten. Die Erinnerung aus frühen Kindertagen an diese schwärenden Zeiten, als der Weiße Abszess das Blut unseres Russischen Bären vergiftete, lebt noch in mir … Da stehen sie auf dem Platz, Russlands Menschen, mit Teekesseln, Bratpfannen, Blusen und Haarwaschmitteln in Händen. Flüchtlinge, Leute, deren Behausung in Flammen aufgegangen ist, Legionen von Menschen, die das Leid nach Moskau verschlagen hat. Greise, Kriegsversehrte, Veteranen und Helden der Arbeit. Der Anblick dieser Menge weckt in mir tiefen Gram.
    Der Himmel ist trübe und verhangen. Aus dem Orchestergraben dringt traurige Musik. Und da auf einmal, gleich einem blassen Hoffnungsstrahl, eine kleine Szene inmitten der Bühne, die das finstere Bild erhellt: drei obdachlose, von der Welt verstoßene Kindlein, zwei Mädchen in löchrigen Kleidern und ein schmutzstarrender Knabe mit einem Plüschbären unterm Arm. Ein zaghafter Flötenton der Hoffnung wird wach, ja, man meint ihn regelrecht erwachen zu hören. Schwingtsich bebend empor. Über dem finsteren, schwärenden Platz schwebt nun ein rührendes Kinderlied:
     
    Eine Stimme aus der Zukunft kann ich hören,
    Klingt wie Morgentau so rein, so silberhell.
    Eine Stimme, so verlockend, so betörend,
    Macht mich schwindlig wie ein Kinderkarussell.
     
    Zukunft, liebe Zukunft! Lass mich noch gewähren!
    Zukunft, liebe Zukunft! Gib mir etwas Zeit!
    Dem klaren Quell
    Enteilt’ ich schnell,
    Doch der Weg zu dir ist noch sehr weit.
     
    Eine Stimme aus der Zukunft kann ich hören,
    Die mich ruft in eine wunderbare Welt.
    Sie ist streng zu mir, möcht’ sie mich doch beschwören,
    Dass ich heut’ das Feld für morgen schon bestell’.
     
    Zukunft, liebe Zukunft! Lass mich noch gewähren!
    Zukunft, liebe Zukunft! Gib mir etwas Zeit!
    Dem klaren Quell
    Enteilt’ ich schnell,
    Doch der Weg zu dir ist noch sehr weit …
     
    Da rollen die Tränen von ganz allein. Bei meinem verkaterten Schädel ist das kein Wunder, aber Fürst Sobakin in all seiner Würde muss auch schon schniefen. Er hat eine große Familie mit vielen kleinen Enkelein. Der bullige Inspektor aus der Geheimen Kanzlei sitzt da wie aus Erz gegossen. Er hat Nerven aus Stahl, die halten alles aus. Der rundliche Tischvorsteher zieht die Schultern hoch, als fröstelte ihn, anscheinend hat auch er mitden Tränen zu kämpfen. Das greift den dickfelligsten Leuten ans Herz. Großartig …
    Nicht nur den Stolz auf unser Land hat der Gossudar in uns geweckt, auch das Mitgefühl mit seiner schweren Vergangenheit: Wie diese drei russischen Kinderchen dastehen und ihre Hände aus dem Gestern herüberrecken, aus diesem erniedrigten, gedemütigten Land! Und ach, wir können ihnen so gar nicht helfen …
    Befürwortet.
    Als Nächstes dann: die Gegenwart. Das pralle Leben. Die Tänze der Völker, die das Große Russland eint, dargeboten vom Moissejew-Ensemble. Der leichtfüßige Tanz der Tataren und ein wilder Kosakenreigen mit blankgezogenem Säbel und eine Tambower Leineweber-Quadrille zur Taljanka und der Wechseltanz der Nishegoroder Bastgerber mit ihren Rasselpfeifen und ein tschetschenischer Rundtanz mit reichlich Gicksern und Juchzern und ein jakutischer Schellentanz und ein tschukotischer Fuchspelztanz und ein korjakischer Rentiertanz und ein kalmükischer Hammeltanz und ein jüdischer Fracktanz und ganz viele russische Tänze, russische Tänze bis zum Abwinken, wild, verwegen, übermütig, jeder macht mit, niemand bleibt außen vor.
    Ein legendäres Ensemble, keine Fragen offen.
    Die nächsten beiden Nummern – »Die fliegenden Balalaikas« und »Ein Mädchen eilt zum Stelldichein« – gehören zum klassischen Repertoire, alles daran ist abgewogen, ausgefeilt und poliert. Eine einzige Augenweide! Man meint, beim Zusehen in einem Schlitten zu sitzen und eine Rodelbahn hinabzurodeln. Der Inspektor zollt Beifall. Wir auch.
    Die vom Gossudaren bestallten Künstler sind einfach famos!
    Dann folgt ein kleiner literarischer Programmpunkt: »Sei gegrüßt, meine liebe Arina Rodionowna!« Eine schon etwas angestaubte Nummer, obendrein recht lang. Doch das Volk liebt sie, und auch der Gossudar schätzt sie sehr. Der

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