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Tag des Opritschniks, Der

Tag des Opritschniks, Der

Titel: Tag des Opritschniks, Der Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
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Kinnbart und dem feinen Schnurrbart. Wir richten uns wieder auf. Der Gossudar mustert uns mit dem ausdrucksvollen, aufmerksamen, offenherzigen, eindringlichen Blick seiner graublauen Augen. Ein einmaliger Blick. Unverwechselbar. Ein Blick, für den ich, ohne zu zögern, mein Leben hingäbe.
    »Er hat es gelesen«, versetzt der Gossudar. »Pfiffig geschrieben, das Ding.«
    »Mein Gossudar, wir werden den Spottvogel finden, das versichere ich Euch«, verkündet Buturlin.
    »Daran zweifle ich nicht. Aber um ehrlich zu sein, Terenti Bogdanowitsch, nicht das ist es, was mich sorgt.«
    »Was ist es, mein Gossudar?«
    »Mich sorgt, mein Lieber, ob es nicht sein könnte, dass das, was in dem Poem steht, die Wahrheit ist.«
    »Was genau, mein Gossudar?«
    »Das Ganze.«
    Buturlin denkt nach.
    »Mein Gossudar, da bin ich im Moment überfragt. Erlaubt Ihr, zuvor einen Blick in die Annalen der Feuerwehrbehörde zu werfen?«
    »Dazu braucht es keine Annalen, Fürst!«, erwidert der Gossudar, seine klaren Augen durchschauen Buturlin ganz und gar. »Hinreichend wären die Aussagen dessen, der bei dem Vorfall zugegen war.«
    »Wen meint Ihr, mein Gossudar?«
    »Den Helden des Poems.«
    Buturlin stutzt, wechselt mit dem Alten einen Blick. Dessen breite Kiefer mahlen.
    »Mein Gossudar, Eure Familienangehörigen zu verhören sind wir nicht berechtigt«, gibt der Alte zu bedenken.
    »Ich will gar nicht, dass ihr irgendwen verhört. Ich will bloß wissen, ob das alles stimmt, was da geschrieben steht!«
    Wieder herrscht Schweigen im Kabinett. Nur das lichte Bild des Gossudaren flimmert in allen Regenbogenfarben.
    »Was ist, hat’s euch die Sprache verschlagen?«, fragt der Gossudar lächelnd. »Muss ich erst wieder nachhelfen?«
    »Was wären wir ohne Euch, mein Gossudar!«, bestätigt der gewiefte Buturlin, den Kahlkopf neigend.
    »Na gut, wenn ihr meint«, seufzt der Gossudar. Holt tief Luft und ruft: »Andrej!«
    An die fünfzehn Sekunden vergehen, bis rechts neben dem Antlitz des Gossudaren ein kleines Bild im blauvioletten Rahmen erscheint: Graf Urussow. Sein übernächtigtes, schicksalsergebenes Gesicht lässt erkennen, dass er sich das Poem bereits angetan hat – zu wiederholten Malen.
    »Seid gegrüßt, Vater«, spricht der Graf und neigt den Kopf: dicker Schädel auf kurzem Hals, große Ohren, flache Stirn, grobe Gesichtszüge; das braune Haar ist am Scheitel schon licht.
    »Grüß dich, Schwiegersohn«, spricht der Gossudar, und seine graublauen Augen blicken ungerührt. »Hastdu gelesen, was da einer über dich zusammengereimt hat?«
    »Hab ich, Vater.«
    »Und? Verdammt gut geschrieben das Ganze, nicht wahr? Dabei jammern meine Schriftgelehrten immer, es gäbe bei uns keine guten Dichter!«
    Graf Urussow schweigt, beißt sich auf die schmalen Lippen. Sein Mund hat tatsächlich die Überbreite eines Froschmauls.
    »Nun sag doch mal, Andrej: Ist das alles wahr?«
    Den Blick gesenkt, schweigt der Graf, seufzt und schnieft, dann haucht er vorsichtig: »Es ist wahr, mein Gossudar.«
    Das bringt nun auch den Gossudaren ins Grübeln. Er grübelt mit gefurchter Stirn. Wir stehen und warten.
    »Soll das heißen, du stehst wahrhaftig drauf, bei Feuer zu pimpern?«
    »Jawohl, mein Gossudar«, sagt der Graf und nickt mit seinem schweren Kopf.
    »Na, sieh einer an … Gerüchte darüber sind mir schon früher zu Ohren gekommen, aber ich habe es nicht glauben wollen. Ich dachte, es wären Verleumdungen deiner Neider. So einer also bist du …«
    »Mein Gossudar, ich kann Euch alles erklären …«
    »Wann hat das bei dir angefangen?«
    »Mein Gossudar, ich schwöre Euch bei allen Heiligen, beim Grabe meiner Mutter schwöre ich …«
    »Untersteh dich zu schwören!«, sagt da der Gossudar – und zwar so, dass uns allen die Haare zu Berge stehen.
    Es ist kein Brüllen und kein Zähneknirschen, aber es wirkt wie glühende Zangen. Der Zorn des Gossudaren kann furchtbar sein. Und noch furchtbarer ist, dass unser Gebieter niemals die Stimme hebt.
    Graf Urussow ist kein Hasenfuß, er ist Staatsmann, Hansdampf in allen Gassen, ein Millionär, wie er im Buche steht, und leidenschaftlicher Jäger, der aus Prinzip nur mit Hirschfänger auf Bärenjagd geht … aber vor dieser Stimme erbleicht auch er wie ein Gymnasiast der Unterstufe vor dem Schuldirektor.
    »Erzähl mir lieber, wann du dich solchem Laster zum ersten Mal hingabst.«
    Der Graf leckt sich die trockenen Froschlippen.
    »Mein Gossudar, das hat … ganz zufällig angefangen … wie aus

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