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Tag des Opritschniks, Der

Tag des Opritschniks, Der

Titel: Tag des Opritschniks, Der Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
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Märchenerzähler, von der Wissenschaft aufgepumpte Muskelmänner, Zauberer, Masseure, Gespielen, ewige Kindsfrauen, elektrische Honigkuchenpferde …
    »Guten Morgen, Mamma!«, verschmilzt das Geheul zum Chor.
    »Guten Morgen, Brüder und Schwestern im Geiste!«, sagt die Gossudarin lächelnd.
    Zwei greise Komiker – Pawluschka, der Igel, und Duga, der Waldgeist – springen auf sie zu, fassen jeder einen Arm, küssen ihr die Hände ab. »Ma-a-acht! Ma-a-acht!«, kräht der mondgesichtige Pawluschka in einem fort, »Nieder mit Ölropa! Hoch lebe Eugasia!«, krächzt der struppige Duga dazwischen.
    Die anderen tanzen Ringelreihen, ziehen um die Gossudarin einen Kreis. Und ich sehe: Ihr Gesicht ist gleich viel freundlicher, die Brauen zucken nicht mehr, die Augen sind ein bisschen abgekühlt.
    »Ach, was tätet ihr ohne mich, Brüder und Schwestern!«
    Ein Greinen ist die Antwort: »Das wäre schrecklich, Mamma! Oh, wie schre-e-cklich!«
    Die Gnadenbrotempfänger rutschen vor ihrer Mamma auf den Knien.
    Ich stehle mich zum Ausgang. Sie bemerkt es.
    »Komjaga!«
    Ich halte inne. Sie winkt den Schatzmeister heran, entnimmt ihrer Geldbörse eine Goldmünze, wirft sie mir zu.
    »Für die Mühe.«
    Ich fange sie auf, verbeuge mich und gehe.

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    ABEND. ES SCHNEIT. Mein Merin fährt durch Moskau. Ich halte das Lenkrad, meine Faust presst die Goldmünze. Sie versengt mir die Haut wie eine glühende Kohle. Es ist kein Lohn, sondern ein Geschenk. Als Geld nicht der Rede wert – ein Tscherwonez, das sind zehn Rubel –, aber nicht mit tausend Rubeln aufzuwiegen für mich …
    Unsere Gossudarin löst in mir jedes Mal einen Sturm von Gefühlen aus. Ihn zu beschreiben fällt schwer. Es ist, als prallten zwei Tsunami aufeinander: der eine aus Hass, der andere aus Liebe. Ich hasse unsere Mamma, weil sie den Gossudaren in Verruf bringt, den Glauben des Volkes an die Macht untergräbt. Ich liebe sie für ihren Charakter, ihre Kraft, ihre Konsequenz und Unbeirrbarkeit. Und … ihrer weißen, zarten, üppigen, maßlosen, einzigartigen Brüste wegen, die zu Gesicht zu bekommen, aus den Augenwinkeln, mir zum Glück manchmal gelingt. Solche unverhofften abendlichen Offenbarungen sind einfach unvergleichlich. Diese Brust zu sehen, und sei es noch so schräg und flüchtig … das ist das Größte, meine Herren! Dass die Gossudarin den Gardisten vor uns Opritschniki den Vorzug gibt, ist freilich zu bedauern. Und an dieser Vorliebe wird sich kaum etwas ändern. Sei’s drum. Gott ist ihr Richter.
    Ich schaue auf die Uhr: 21:42.
    Heute ist Montag. Seit neun tafeln die Opritschniki, ich komme zu spät. Was nicht weiter schlimm ist. Immer montags und donnerstags versammeln wir uns im Wohnhaus vom Alten zum Abendessen. Das ist auf der Jakimanka: die ehemalige Villa des KaufmannsIgumnow, wo sich fast ein ganzes Jahrhundert lang der französische Botschafter eingenistet hatte. Nach den bekannten Ereignissen im Sommer des Jahres 2021, als der Gossudar den Botschafter, der der Anstiftung zur Rebellion überführt worden war, außer Landes wies und die Ernennungsurkunde persönlich, vor den Augen der Öffentlichkeit, zerriss, hat die Opritschnina das Haus in Beschlag genommen. Anstelle von staksigen Franzosenbeinen kann man dort heutzutage unseren geliebten Alten in seinen Saffianstulpen herumstiefeln sehen. Jeden Montag und jeden Donnerstag veranstaltet er für uns ein Essen. Dieses schöne Haus mit dem vielen Zierrat, das so sehr an Russlands alte Zeiten erinnert, ist wie eigens für den Alten gebaut. Es hatte lange darauf gewartet, von ihm bezogen zu werden. Bis der Tag kam. Und das ist nun gut so.
    Vor dem Haus ist schon alles rot von unseren Merins. Wie Marienkäferchen um ein Stück Zucker scharen sie sich um die Villa. Ich parke und steige aus, nähere mich dem verzierten Säulenportal. Die Türsteher des Alten, raue Gesellen, lassen mich wortlos ein. Ich werfe den Dienern meinen Kaftan in die Arme und renne die Treppe hinauf, auf die große Tür zu. Dort stehen noch einmal zwei Hüter in Weiß. Mit einer Verbeugung ziehen sie die Türflügel vor mir auf – und lautes Stimmengewirr bricht über mich herein. Die Tafel dröhnt wie ein Bienenkorb! Davon ist jede Müdigkeit sogleich wie weggepustet.
    Der große Saal ist wie immer rappelvoll. Hier sitzt die ganze Moskauer Opritschnina beisammen. Die Kronleuchter strahlen, Kerzen brennen auf den Tischen. Goldschimmernde Haarschöpfe, schwingende Ohrglöckchen. Welche Freude! Ich trete näher

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