Tag des Opritschniks, Der
wölbt ihre schönen schwarzen Brauen, während sie sich, die Arme immer noch vor den Brüsten, wieder in die Wanne sinken lässt, »wo steckt denn Papa?«
»Papa ist bei den Soldis!« Andrjuscha zieht seine Spielzeugpistole aus dem Holster, zielt damit auf mich. »Piu-piu!«
Der rote Visierstrahl findet meine Stirn. Ich lächele.
»Peng!«, macht Andrjuscha und betätigt den Abzug.
Das Kügelchen trifft mich an der Nasenwurzel.
Prallt ab.
Ich schenke dem künftigen Erben des Russländischen Staatswesens mein Lächeln.
»Wo ist der Gossudar?«, fragt die Gossudarin den in der Tür stehenden Erzieher.
»In der Kriegskanzlei, meine Gossudarin. Heute feiert das Andreaskorps sein Jubiläum.«
»Aha. Das heißt, wieder keiner da, um mit mir zu frühstücken«, seufzt die Gossudarin und greift sich vom goldenen Tablett ein neues Glas Champagner. »Na von mir aus, verschwindet jetzt alle …«
Gemeinsam mit den Kindern und der Dienerschaft begebe ich mich zur Tür.
»Komjaga?«
Ich drehe mich um.
»Frühstücke du mit mir!«
»Zu Befehl, meine Gossudarin.«
1 (chin.) Staatsgrenze. Chinesisches 4-D-Game, das im Neuen Russland nach den Ereignissen vom November 2027 populär wurde.
2 (chin.) Schwert
3 (chin.) kluges Kind
4 (chin.) wunderbar
5 (chin.) Dummkopf
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ICH WARTE AUF DIE GOSSUDARIN im kleinen Speisezimmer. Mir wird eine unerhörte Ehre zuteil: von unserer Herrin zu Tisch gebeten zu werden. In der Regel frühstückt die Gossudarin zu Abend wenn nicht mit dem Gossudar, so mit jemandem aus dem Engsten Kreis – Gräfin Borissowa oder Fürstin Wolkowa. Mit ihren zahlreichen Gnadenbrotempfängerinnen pflegt sie lediglich zu vespern – und dies weit nach Mitternacht. Das Abendbrot schließlich nimmt unsere Gossudarin bei Sonnenaufgang zu sich.
Ich sitze am Frühstückstisch, eingedeckt mit goldenem Geschirr und Kristall, geschmückt mit weißen Rosen. Vier Diener in smaragdgrün-silbernen Kaftanen stehen längs der Wände bereit.
Vierzig Minuten sind verstrichen, die Gossudarin lässt immer noch auf sich warten. Sie braucht lange, ihre Morgentoilette hinter sich zu bringen. Ich sitze da und denke über unsere Herrin nach. Sie hat es aus mancherlei Gründen schwer. Nicht nur, weil sie eine Frau und deswegen schwach ist. Sondern auch aus Gründen des Blutes. Unsere Gossudarin ist zur Hälfte Jüdin. Dagegen lässt sich nichts machen. Allein schon deswegen werden auf sie so viele Schmähschriften verfasst und Gerüchte in die Welt gesetzt – in Moskau und darüber hinaus in ganz Russland.
Was mich betrifft, so habe ich um Juden nie viel Aufhebens gemacht. Auch mein seliger Vater war kein Judenhasser. Ein Spruch von ihm war, dass jeder, der länger als zehn Jahre Geige spielt, ganz automatisch zum Juden wird. Auch unsere Mama, Friede ihrer Asche,hat sich um die Juden nicht weiter geschert, wobei sie meinte, für unseren Staat wären weniger die echten Juden das Problem als die falschen, also die gebürtigen Russen, die sich von ihnen einspannen lassen. Und mein Großvater, der Mathematiker, hat, als ich seinerzeit als Halbwüchsiger keine Lust zum Deutschlernen zeigte, ein selbstverfasstes kleines Gedicht rezitiert, das eine Parodie auf ein bekanntes von Wladimir Majakowski war, und es ging so:
Ja, wär ich
ein Jude, vor Alter schon krumm,
nicht schont’ ich
die müden Knochen
und lernte
Deutsch,
und einzig darum,
weil Hitler deutsch gesprochen.
Freilich nicht alle waren den Juden so wohlgesonnen wie meine lieben Verwandten. Es kam zu Vorfällen, hin und wieder wurde Judenblut auf russländischer Erde vergossen. Das zog sich und glomm vor sich hin bis zum Erlass des Gossudaren »Über die rechtgläubigen Namen«, demzufolge russländische Bürger, die nicht rechtgläubig getauft sind, auch keine geheiligten Namen tragen dürfen, nur solche, die ihrer Nationalität entsprechen. Worauf aus einem Boris nicht selten ein Boruch wurde, aus Viktor ein Agvidor und aus Lew – Leib. So gelang es unserem allweisen Gossudaren, die jüdische Frage in Russland endgültig und unwiderruflich zu lösen. Die klugen Juden nahm er unter seine Fittiche, die dummen verzogen sich von allein. Und es hat sich schnell gezeigt, dass die Juden für das RussländischeStaatswesen überaus nützlich sind. Unersetzbar insbesondere in Finanzdingen, in Handel und Diplomatie.
Aber bei der Gossudarin liegt der Fall anders. Da geht es nicht so sehr um die Judenfrage. Sondern um die Reinheit des Blutes. Wäre
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