Tag und Nacht und auch im Sommer
Sie, daß wir darüber reden, was das Gedicht bedeutet?
Ihr könnt reden, worüber ihr wollt, solange es halbwegs etwas mit dem Gedicht zu tun hat. Meinetwegen über eure Großmutter. Kümmert euch nicht um die »wahre« Bedeutung des Gedichts. Die kennt nicht einmal der Dichter selbst. Als ihr es gelesen habt, ist etwas geschehen, oder es ist nichts geschehen. Bitte alle die Hand heben, bei denen nichts geschehen ist. Schön, keine Meldung. Also, irgend etwas ist geschehen, in eurem Kopf, in eurem Herzen oder in eurem Bauch. Stellt euch vor, ihr seid Schriftsteller. Was geschieht, wenn ihr Musik hört? Kammermusik? Rock? Ihr seht auf der Straße ein Paar, das sich streitet. Ihr beobachtet ein Kind, das seiner Mutter trotzt. Ihr seht einen obdachlosen Bettler. Ihr seht einen Politiker, der eine Rede hält. Ihr bittet jemanden, mit euch auszugehen. Ihr achtet auf die Reaktion des anderen. Weil ihr Schriftsteller seid, fragt ihr euch immer, immer, immer, was geschieht, Baby?
Na ja, also, das Gedicht handelt von einem Vater, der mit seinem kleinen Jungen tanzt, und es ist nicht angenehm, weil der Vater betrunken und grob ist.
Brad?
Wenn es nicht angenehm ist, warum krallt er sich dann in sein Hemd, statt loszulassen?
Ja, Monica?
Es passiert ziemlich viel in dem Gedicht. Der Junge wird durch die Küche geschleift, und er könnte, was den Vater betrifft, genausogut eine Stoffpuppe sein.
Brad?
Da ist ein aufschlußreiches Wort, sie toben herum. Das ist ein Glückswort, stimmt’s? Ich meine, er könnte ja auch tanzen oder sonst was Normales schreiben, aber er schreibt wir toben rum, und ein einziges Wort kann ja schon, wie Sie immer sagen, die Atmosphäre eines Satzes oder eines Absatzes verändern. Das Herumtoben schafft also eine glückliche Stimmung.
Jonathan?
Auch wenn Sie mich jetzt für leicht gestört halten, Mr. McCourt: Hat Ihr Vater jemals mit Ihnen in der Küche herumgetanzt ?
Er hat mit uns nie in der Küche herumgetanzt, aber er hat uns mitten in der Nacht aus dem Bett geholt, und wir mußten patriotische irische Lieder singen und geloben, für Irland zu sterben.
Hab ich mir schon gedacht, daß das Gedicht was mit Ihrer Kindheit zu tun hat.
Das stimmt zum Teil, aber ich habe euch gebeten, es zu lesen, weil es einen Augenblick einfängt, eine Stimmung, und es könnte ja, halten zu Gnaden, auch einen tieferen Sinn haben. Manche von euch wollen ja unbedingt etwas für ihr Geld. Was ist über die Mutter zu sagen? Sheila?
Was in dem Gedicht geschieht, ist doch ganz einfach. Der Mann hat eine schwere Arbeit, er ist Kaminkehrer oder Bergmann oder so was. Seine Hände sind schwielig und voller Ruß. Die Frau sitzt dabei und ist fuchsteufelswild, aber sie kennt das schon. Sie weiß, daß das einmal die Woche passiert, wenn er seinen Lohn bekommen hat. Wie bei Ihrem Vater. Stimmt’s,
Mr. McCourt? Der Junge liebt seinen Vater, weil man sich immer zu dem Verrückten hingezogen fühlt. Es spielt keine Rolle, daß die Mutter den Haushalt macht. Das ist für den Jungen selbstverständlich. Also wenn der Vater heimkommt, ist er total aufgekratzt von der Trinkerei und steckt das Kind damit an.
Was geschieht am Schluß des Gedichts? David?
Der Vater schwenkt ihn zur Tür hinaus und schickt ihn ins Bett. Die Mutter räumt Topf und Pfanne weg. Am nächsten Tag ist Sonntag, und dem Vater geht’s nach dem Aufstehen gar nicht gut. Die Mutter macht Frühstück, redet aber mit keinem, und der Junge steht zwischen den beiden. Er ist erst neun oder so, weil er noch so klein ist, daß ihn der Reißverschluß des Vaters im Gesicht kratzt. Die Mutter würde am liebsten abhauen und sich scheiden lassen, weil ihr die Trinkerei und das lausige Leben bis hier steht, aber sie sitzt mitten in West Virginia, und da gibt es kein Entrinnen, wenn man kein Geld hat.
Jonathan?
Was mir an dem Gedicht gefällt, ist, daß es eine einfache Geschichte erzählt. Das heißt, Moment. So einfach ist sie gar nicht. Es passiert ganz schön viel, und es gibt ein Vorher und ein Nachher. Wenn man einen Film aus dem Gedicht machen wollte, hätte man’s als Regisseur ganz schön schwer. Würde man in der ersten Szene zeigen, wie die Mutter und der Junge auf den Vater warten? Oder würde man gleich mit den ersten Zeilen anfangen, wo der Junge wegen der Whiskeyfahne des Vaters das Gesicht verzieht? Wie soll der Junge sich anklammern? Indem er die Arme hebt und das Hemd des Vaters packt? Wie würde man das Gesicht der Mutter zeigen, ohne daß sie
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