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Tag und Nacht und auch im Sommer

Tag und Nacht und auch im Sommer

Titel: Tag und Nacht und auch im Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank McCourt
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fies wirkt? Man müßte entscheiden, was für ein Mensch der Vater ist, wenn er nüchtern ist, denn wenn er immer so wäre, würde man von vornherein keinen Film über ihn drehen wollen. Was mir nicht gefällt, ist, daß er auf dem Kopf des Jungen den Takt klopft, mit seiner dreckigen Hand, was natürlich beweist, daß er hart arbeitet.

    Ann?
    Ich weiß nicht. Da steckt schon viel drin, wenn man länger drüber redet. Aber warum lassen wir’s nicht einfach gut sein? Lesen wir doch einfach die Geschichte, bemitleiden den Jungen und die Mutter mit ihrer Leidensmiene und vielleicht auch noch den Vater. Warum muß man immer alles in Grund und Boden analysieren?
    Ja, David?
    Wir analysieren nicht. Wir reagieren bloß. Wenn du aus dem Kino kommst, redest du doch auch über den Film, oder nicht?
    Manchmal, ja, aber das ist ein Gedicht, und man weiß doch, was Englischlehrer mit Gedichten anstellen. Analysieren, analysieren, analysieren. Nach dem tieferen Sinn forschen. Das hat mir die Lyrik verleidet. Irgendwer sollte mal ein Grab schaufeln und den tieferen Sinn beerdigen.
    Ich habe euch nur gefragt, was sich getan hat, als ihr das Gedicht gelesen habt. Wenn nichts war, ist das auch kein Beinbruch. Wenn ich Heavy Metal höre, kriege ich glasige Augen. Manche von euch könnten mir diese Musik wahrscheinlich erklären, und dann würde ich sie mir mit mehr Verständnis anhören, aber sie interessiert mich einfach nicht genug. Man muß nicht auf jeden Reiz reagieren. Wenn »Walzer mit meinem Vater« euch kalt läßt, dann läßt es euch eben kalt.
    Das stimmt schon, Mr. McCourt, aber wir müssen da vorsichtig sein. Wenn man sich abfällig über irgendwas äußert, nehmen Englischlehrer das gleich persönlich und werden sauer. Meine Schwester hat an der Cornell Ärger mit einem Englischprofessor gekriegt wegen ihrer Interpretation von einem Shakespeare-Sonett. Er hat gemeint, sie liegt voll daneben, und sie hat gesagt, man kann ein Sonett auf hundert verschiedene Arten lesen, sonst stünden ja in der Bibliothek nicht tausend Bände Shakespeare-Kritik, und da war er eingeschnappt und hat sie in sein Büro bestellt. Da war er dann nett zu ihr, und sie ist zu Kreuze gekrochen und hat gesagt, vielleicht hätte er ja
doch recht, und ist mit ihm in Ithaca essen gegangen, und das hab ich total ätzend von ihr gefunden, daß sie da so eingeknickt ist. Jetzt reden wir kaum noch miteinander.
    Warum schreibst du nicht was darüber, Ann? Das ist doch eine ungewöhnliche Geschichte, daß du und deine Schwester euch wegen eines Shakespeare-Sonetts entzweit habt.
    Könnte ich machen, aber dazu müßte ich mir die ganze Sonettgeschichte genauer erzählen lassen, was er gesagt hat, was sie gesagt hat, und weil ich erstens einen Horror davor habe, nach tieferen Bedeutungen zu suchen, und sie zweitens sowieso nicht mehr mit mir redet, kenne ich eben nicht die ganze Geschichte.
    David?
    Erfinde sie doch. Wir haben hier drei Figuren, Ann, ihre Schwester und den Professor, und dann ist da noch das Sonett, das an dem ganzen Ärger schuld ist. Du könntest jede Menge Spaß mit diesem Sonett haben. Du könntest auch die Namen auswechseln, das Sonett beiseite lassen und sagen, es handelt sich um einen mordsmäßigen Streit über »Walzer mit meinem Vater«, und schon hat man eine Story, die man verfilmen möchte.
    Jonathan?
    Nichts für ungut, Ann, aber ich kann mir nichts Langweiligeres vorstellen als eine Geschichte über eine Studentin, die sich mit einem Professor über ein Sonett streitet. Ich meine, Herrgott noch mal, pardon, die Welt geht in die Binsen, Menschen verhungern usw., und diese Leute haben nichts Besseres zu tun, als sich über ein Gedicht zu streiten. Ich würde mir diese Geschichte nie kaufen, und ich würde mir den Film nicht ansehen, nicht mal, wenn sie mich mit meiner ganzen Familie umsonst reinlassen würden.
    Mr. McCourt?
    Ja, Ann?
    Bitte sagen Sie Jonathan, er kann mich mal.

    Tut mir leid, Ann. Die Botschaft müßtest du schon persönlich überbringen. Ah, es klingelt, aber denkt dran, ihr müßt nicht auf jeden Reiz reagieren.
     
    Immer, wenn eine Stunde durchhing, wenn die Schüler mit den Gedanken woanders waren, wenn zu viele den Paß verlangten, griff ich auf das »Abendbrotverhör« zurück. Regierungsbeamte oder besorgte Vorgesetzte hätten vielleicht gefragt: Ist das eine legitime Unterrichtsmethode?
    Jawohl, ist es, meine Damen und Herren, denn ich unterrichte hier Schreiben, und alles ist Korn für unsere

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