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Tag und Nacht und auch im Sommer

Tag und Nacht und auch im Sommer

Titel: Tag und Nacht und auch im Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank McCourt
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Mutter bedanken würde, würde sie in Ohnmacht fallen.
    Ich zog weiter meine Show ab, bis mir Daniel den Wind aus den Segeln nahm.
    Daniel, was hat’s bei dir gestern zum Abendbrot gegeben? Kalbsmedaillons in so einer Weißweinsauce.
    Und was gab’s als Beilage zu den Kalbsmedaillons in Weißwein?
    Spargel und einen kleinen Salat mit Vinaigrette.
    Keine Vorspeise?
    Nein. Nur das Essen. Meine Mutter findet, Vorspeisen verderben den Appetit.
    Also hat deine Mutter die Kalbsmedaillons gemacht?
    Nein, das Dienstmädchen.
    Aha, das Dienstmädchen. Und was hat deine Mutter gemacht?
    Die war bei meinem Vater.
    Also das Dienstmädchen hat das Abendessen zubereitet und vermutlich auch serviert?
    Stimmt genau.
    Und du hast allein gegessen?
    Ja.
    An einem auf Hochglanz polierten Mahagonitisch, nehme ich an?
    Stimmt.
    Mit einem Kristallüster.

    Ja.
    Wirklich?
    Ja.
    Hattest du Hintergrundmusik?
    Ja.
    Mozart, nehme ich an? Passend zum Tisch und zum Kronleuchter.
    Nein. Telemann.
    Und dann?
    Hab ich noch zwanzig Minuten Telemann gehört. Er ist einer der Lieblingskomponisten meines Vaters. Als das Stück zu Ende war, hab ich meinen Vater angerufen.
    Und wo war der, wenn ich fragen darf?
    Er liegt mit Lungenkrebs im Sloan-Kettering Hospital, und meine Mutter ist ständig bei ihm, weil er wahrscheinlich bald sterben wird.
    Oh, das tut mir leid, Daniel. Das hättest du mir sagen müssen, statt dich hier verhören zu lassen.
    Ist doch egal. Er stirbt so oder so.
    Stille im Klassenzimmer. Was konnte ich jetzt zu David sagen? Ich hatte mein Spielchen gespielt: der clevere, amüsante Lehrer als Verhörexperte, und Daniel hatte es geduldig über sich ergehen lassen. Die Einzelheiten des einsamen Abendbrots in elegantem Ambiente erfüllten das Klassenzimmer. Sein Vater war da. Wir saßen mit Daniels Mutter am Bett. Wir würden uns immer an die Kalbsmedaillons erinnern, an das Dienstmädchen, an den Kronleuchter und an Daniel allein am polierten Mahagonitisch, während sein Vater im Sterben lag.
     
    Ich verkünde in meinen Klassen, daß sie am Montag die New York Times mitbringen sollen, damit wir Mimi Sheratons Restaurantkritiken lesen können.
    Sie wechseln Blicke und zucken auf die New Yorker Art die Schultern: Augenbrauen hochziehen. Hände hochheben, Handflächen
nach außen, Ellbogen angelegt. Ausdruck von Geduld, Resignation, Verwunderung.
    Warum sollen wir Restaurantkritiken lesen?
    Vielleicht gefallen sie euch, und außerdem werden sie natürlich euren Wortschatz erweitern und vertiefen. Das solltet ihr dann auch wichtigen Besuchern aus Japan und anderen Ländern erzählen.
    Mannomann, demnächst lassen Sie uns noch Nachrufe lesen.
    Keine schlechte Idee, Myron. Aus der Lektüre von Nachrufen könntet ihr eine Menge lernen. Würdest du das Mimi Sheraton vorziehen? Von mir aus kannst du ruhig ein paar pikante Nachrufe mitbringen.
    Mr. McCourt, belassen wir’s doch lieber bei Rezepten und Restaurantkritiken.
    Okay, Myron.
    Wir sehen uns den Aufbau einer Mimi-Sheraton-Kritik an. Sie informiert uns über das Ambiente des Restaurants und die Qualität des Service – oder deren Fehlen. Sie beschreibt alles, was zu einer Mahlzeit dazugehört: Vorspeisen, Hauptgerichte, Desserts, Kaffee, Wein. In einer Zusammenfassung am Schluß begründet sie die Sterne, die sie vergibt oder nicht vergibt. Das ist der Aufbau. Ja, Barbara?
    Ich finde diese Kritik richtig bösartig. Mir hat sich das Bild aufgedrängt, daß Blut von dem Papier in ihrer Schreibmaschine tropft oder worauf sie sonst schreibt.
    Wenn du öfter in Restaurants mit so gepfefferten Preisen gehen würdest, wärst du dann nicht dankbar, daß dich jemand wie Mimi Sheraton warnt?
    Ich versuche, die Kritik durchzugehen, Wortschatz, Eigenheiten, aber die Schüler wollen wissen, ob Mimi ihr Leben lang jeden Abend essen geht und wie sie das schafft.
    Sie meinten, jemand mit so einem Job könne einem nur leid tun: nie einfach zu Hause bleiben können und einen Hamburger oder eine Schüssel Cornflakes mit einer Banane drin verdrücken
dürfen! Wahrscheinlich kommt sie am Abend heim und sagt ihrem Mann, daß sie nie wieder Huhn oder Schweinekoteletts sehen will. Der Mann seinerseits hat nie das Vergnügen, ihr nach einem langen Tag einen kleinen Imbiß vorzusetzen, um sie aufzumuntern, weil sie wahrscheinlich an dem einen Abend so viel gegessen hat, daß sie damit die ganze Woche auskommen würde. Man stelle sich das Dilemma der Ehemänner dieser Restaurantkritikerinnen vor. Der Mann kann

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