Tag und Nacht und auch im Sommer
unser Singen vergiftet hätte. Ich hatte Gewissensbisse, aber es machte mir Spaß, und so wie sie sangen, diese jüdischen, koreanischen, chinesischen, amerikanischen Schüler, nahm ich an, daß es auch ihnen Spaß machte. Sie kannten die beliebtesten Kinderreime. Jetzt hatten sie auch Melodien dazu.
Die alte Mutter Frank
Schaut in den Küchenschrank.
Erst kriegt ihr Hund den Knochen,
Dann kann sie sich was kochen.
Doch weh, im Schrank war Kehraus,
Das Hündchen, das geht leer aus.
Bericht über einen Unterrichtsbesuch, den ich geschrieben hätte, wenn ich Stellvertretender Unterschulrat beim Städtischen Schulamt, 110 Livingston Street, Brooklyn, New York, 11201, gewesen wäre:
Sehr geehrter Mr. McCourt:
Als ich am 2. März Ihr Klassenzimmer betrat, sangen Ihre Schüler, ziemlich laut und störend, wie ich sagen darf, ein Potpourri von Ammenreimen. Sie führten sie von Reim zu Reim, ohne jede Pause für Aufklärung, Hinterfragung, Rechtfertigung oder Analyse. Ja, es hatte sogar den Anschein, als fehlte diesem Tun jeglicher Zusammenhang, jegliche Zweckbestimmung.
Einem Lehrer mit Ihrer Erfahrung müßte doch aufgefallen sein, wie viele Studenten Straßenkleidung trugen, wie viele auf ihren Stühlen lümmelten und die Beine von sich streckten. Augenscheinlich hatte keiner von ihnen ein Heft oder eine Anleitung zur Benutzung desselben. Es ist Ihnen sicherlich bewußt, daß das Heft das wichtigste Arbeitsmittel eines jeden High-School-Schülers im Fach Englisch ist, und daß ein Lehrer, der es vernachlässigt, seinen Pflichten nicht gerecht wird.
Bedauerlicherweise stand auch an der Tafel nichts, was zur Aufklärung über Sinn und Zweck dieser Unterrichtsstunde beigetragen hätte. Das mag auch der Grund sein, warum die Hefte unbenutzt in den Schultaschen steckten.
Im Rahmen meiner Zuständigkeiten als stellvertretender Unterschulrat beim städtischen Schulamt befragte ich nach der Stunde einige Ihrer Schüler, welchen Nutzen sie ihrer Ansicht nach aus diesem Unterricht gezogen hätten. Sie waren um Antworten verlegen, kratzten sich gar am Kopf und wußten sich vollends nicht zu äußern, als ich mich nach dem Sinn dieses gemeinschaftlichen Singens erkundigte. Einer sagte, es habe ihm Spaß gemacht, und das ist zwar eine klare Aussage, doch handelt es sich dabei ganz gewiß nicht um eines der Ziele einer höheren Schulbildung.
So leid es mir tut, sehe ich mich doch gezwungen, den Schulrat über meine Beobachtungen in Kenntnis zu setzen, der zweifellos seinerseits die Oberschulrätin informieren wird. Somit besteht die Möglichkeit, daß Sie zu einer Anhörung vor den
Schulausschuß gebeten werden. Sie sind berechtigt, zu einer solchen Anhörung in Begleitung eines Gewerkschaftsvertreters und/oder eines Anwalts zu erscheinen.
Hochachtungsvoll
Montague Wilkinson III
Also gut, es hat geläutet. Wieder einmal gehört ihr mir. Schlagt euer Buch auf, bei dem Gedicht »Walzer mit meinem Vater« von Theodore Roethke. Wer kein Buch hat, kann beim Nachbarn reinschauen. Keiner in der Klasse wird etwas dagegen haben, einen anderen mitlesen zu lassen. Stanley, liest du uns das Gedicht bitte vor? Danke.
»Walzer mit meinem Vater« von Theodore Roethke
Aus deinem Mund weht Whiskeydunst,
Es ist zum Schwindelkriegen.
Ich kralle fest mich in dein Hemd,
Um nicht davonzufliegen.
Wir toben rum, bis Topf und Pfann
Vom Küchenbüfett schlittern.
Die Mutter leidet, ihre Stirn
Will sich nicht mehr entknittern.
Die Hand, in der du meine hältst,
Ist schwielig und voll Ruß.
Bei jedem falschen Schritt von dir
Kratzt mich dein Reißverschluß.
Du klopfst mit deiner harten Hand
Den Takt auf meinem Schopf.
Dann schwenkst du mich zur Tür hinaus,
Jetzt ab ins Bett, du Knopf.
Nochmals Dank, Stanley. Nehmt euch ein paar Minuten Zeit, und seht euch das Gedicht noch einmal an. Laßt es auf euch wirken. Was ist passiert, als ihr das Gedicht gelesen habt?
Wie, was passiert ist?
Ihr habt das Gedicht gelesen. Irgend etwas ist dabei passiert, es hat sich etwas in eurem Kopf bewegt, in eurem Körper, in eurem Bauch. Oder auch nicht. Schließlich müßt ihr nicht auf jeden Reiz im Universum reagieren. Ihr seid ja keine Wetterfahnen.
Mr. McCourt, wovon reden Sie?
Ich sage, ihr braucht nicht auf alles zu reagieren, was euch ein Lehrer oder sonst jemand vorsetzt.
Zweifelnde Blicke. Von wegen. Sagen Sie das mal ein paar von den Lehrern hier. Die nehmen alles gleich persönlich.
Mr. McCourt, möchten
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