Tag und Nacht und auch im Sommer
Bestimmtes hinaus, außer darauf, daß ich das Gedicht wegen seiner einfachen Aussage mag.
Und die wäre?
Daß die Menschen einander in Frieden lassen sollen. Elsi hält sich zurück. Sie könnte die ganze Nacht aufbleiben und wartend und weinend an der Tür stehen, aber sie weiß es besser. Sie vertraut ihren Schafen, sie läßt sie in Ruhe, und sie kommen von sich aus nach Hause, und man kann sich ausmalen, wie froh alle sind, wieder zusammenzusein. Die Lämmer blöken freudig und vollführen possierliche Sprünge, und die Böcke lassen zufrieden ihre Baßstimme erschallen, während sie sich für die Nacht einrichten, und Elsi sitzt am Kamin und strickt, voller Genugtuung darüber, daß sie mit ihrem Tagwerk, dem Hüten der Schafe und Lämmer, niemanden drangsaliert hat.
In meinen Englischstunden an der Stuyvesant High School waren sich die Schüler einig, daß in puncto Grausamkeit und Horror nichts im Fernsehen oder aus Hollywood an das Märchen von Hänsel und Gretel heranreiche. Jonathan Greenberg sprach es aus. Wie können wir Kinder einer Geschichte aussetzen, in der ein Arschloch von Vater sich so von seiner neuen Frau unterjochen läßt, daß er einwilligt, die Kinder in den Wald zu führen und sie verhungern zu lassen? Wie können wir Kindern erzählen, daß Hänsel und Gretel von einer Hexe eingesperrt wurden, die sie mästen und kochen wollte? Und gibt es etwas Furchtbareres als die Szene, in der Gretel die Hexe in den Backofen stößt? Sie ist eine böse alte kannibalische Hexe, und es geschieht ihr recht, aber muß das bei Kindern nicht Alpträume auslösen?
Lisa Berg sagte, diese Märchen sind schon seit Jahrhunderten im Umlauf. Wir sind alle mit ihnen aufgewachsen und haben sie geliebt, und es hat uns nichts geschadet, also wozu die künstliche Aufregung?
Rose Kane stimmte Jonathan zu. Als sie klein war, hatte sie Alpträume wegen Hänsel und Gretel, und das lag vielleicht daran, daß sie selbst eine neue Stiefmutter hatte, die ein ausgemachtes Miststück war und keine Sekunde gezögert hätte, sie und ihre Schwester im Central Park oder in irgendeiner entlegenen U-Bahnstation auszusetzen. Nachdem sie von ihrer Lehrerin in der ersten Klasse die Geschichte von Hänsel und Gretel gehört hatte, weigerte sie sich, mit ihrer Stiefmutter irgendwohin zu gehen, wenn ihr Vater nicht dabei war. Das brachte ihren Vater dermaßen in Rage, daß er ihr alle möglichen Strafen androhte. Du gehst mit deiner Stiefmutter mit, Rose, oder du kriegst auf ewig Hausarrest. Was natürlich bewies, daß er total unter der Fuchtel der Stiefmutter stand, die eine Warze am Kinn hatte wie alle Stiefmütter im Märchen, eine Warze mit sprießenden Härchen, die sie sich immer wieder ausrupfte.
Jeder in der Klasse hatte offenbar eine Meinung zu Hänsel und Gretel, und die Hauptfrage war, würdest du deinen Kindern dieses Märchen erzählen? Ich schlug vor, die Befürworter und die Gegner sollten zwei Gruppen bilden und sich einander gegenübersetzen, und es zeigte sich, daß die Klasse genau in der Mitte gespalten war. Außerdem schlug ich vor, jemand solle die Diskussion moderieren, aber die Wogen schlugen hoch, das Thema ließ keinen kalt, und ich mußte die Aufgabe selbst übernehmen.
Es dauerte Minuten, bis der Tumult sich legte. Die Gegner sagten, ihre Kinder könnten so schweren Schaden erleiden, daß gewaltige Kosten für eine Therapie anfallen würden. Ach was, Blödsinn, hielten die Befürworter dagegen. Kriegt euch wieder ein. Wegen einem Märchen hat noch keiner eine Therapie gebraucht. Alle Kinder in Amerika und Europa sind mit diesen Geschichten aufgewachsen.
Die Gegner führten die Gewalttätigkeit in Rotkäppchen ins Feld, den Wolf, der die Großmutter auf einen Sitz verschlingt, und die Gemeinheit der Stiefmutter in Aschenputtel. Man müsse sich fragen, wie ein Kind es überhaupt aushalte, solches Zeug zu hören oder zu lesen.
Dann sagte Lisa Berg etwas so Bemerkenswertes, daß schlagartig Stille eintrat. Sie sagte, Kinder haben so dunkles, tiefes Zeug im Kopf, daß es unser Fassungsvermögen übersteigt.
Wow, sagte jemand.
Lisa hatte einen Nerv getroffen. Sie waren selbst noch nicht allzu weit von der Kindheit entfernt, obwohl man ihnen das nicht hätte sagen dürfen, und diese Stille hatte etwas von einer Rückkehr ins Traumland der Kindheit.
Am nächsten Tag sangen wir Überbleibsel aus meiner Kindheit. Das diente keinem bestimmten Zweck, hatte keinen tieferen Sinn. Es drohte keine Klausur, die
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