Tag und Nacht und auch im Sommer
es gewußt. Lesen Sie die Griechen.
Der Professor sagte, bevor Ihre Schüler den Raum betreten, müssen Sie sich bereits entschieden haben, wo Sie sein werden – »Pose und Position« – und wer Sie sein werden – »Identität und Image«. Ich hätte mir nicht träumen lassen, daß Unterrichten so kompliziert sein kann. Er sagte, Sie können schlechterdings nicht unterrichten, wenn Sie nicht wissen, wo Sie sich physisch positionieren sollen. Das Klassenzimmer kann Schlachtfeld oder Spielplatz sein. Sie müssen wissen, wer Sie sind. Denken Sie an Pope: »Erkenne dich nun selbst, laß ab, Gott auszuspüren: / Des Menschen Wissenschaft ist, Menschen zu studieren.« Am ersten Tag Ihrer Lehrtätigkeit sollten Sie an der Tür Ihres Klassenzimmers stehen und den Schülern zeigen, wie sehr Sie sich freuen, sie zu sehen. Stehen, sage ich. Jeder Dramatiker wird Ihnen sagen: Wenn sich der Schauspieler setzt, setzt sich das Stück. Der allerbeste Schachzug besteht darin, daß Sie Ihre Präsenz geltend machen, und zwar draußen auf dem Flur. Draußen, sage ich. Das ist Ihr Revier, und wenn Sie da draußen sind, werden Sie als starker Lehrer wahrgenommen, furchtlos, bereit, sich der Meute zu stellen. Denn das ist eine Klasse: eine Meute. Und Sie sind zwar ein Lehrer, aber auch ein Krieger. Das machen sich die Leute nicht klar. Ihr Revier ist wie Ihre Aura, es begleitet Sie überallhin, auf den Fluren, im Treppenhaus und gewißlich auch im Klassenzimmer. Dulden Sie kein Eindringen in Ihr Revier. Niemals. Und denken Sie daran: Lehrer, die hinter ihrem Pult sitzen oder auch stehen,
sind im tiefsten Innern unsicher und sollten den Beruf wechseln.
Es gefiel mir, wie er »gewißlich« sagte, ein Wort, das mir bis dahin nur in viktorianischen Romanen begegnet war. Ich nahm mir vor, es auch zu verwenden, wenn ich erst einmal Lehrer war. Es klang so bedeutsam, daß es jeden dazu bringen würde, sich gerade hinzusetzen und aufzumerken.
Ich fand es phantastisch, daß man sich einfach da vorne auf das Podium mit dem Pult stellen und eine Stunde lang reden konnte, während die ganze Klasse sich Notizen machte, und wenn man auch nur ein bißchen gut aussah oder interessant war, würden die Mädchen sich darum reißen, nach dem Unterricht mit einem zu reden, im Büro oder anderswo. So stellte ich es mir damals vor.
Der Professor sagte, er habe eine informelle Studie über Teenagerverhalten an High Schools durchgeführt, und wenn wir als Lehrer sensible Beobachter seien, würden wir unmittelbar vor dem Klingeln bestimmte Phänomene wahrnehmen. Wir würden merken, daß bei den Jugendlichen Körpertemperatur und Blutdruck steigen und genügend Adrenalin ausgeschüttet wird, um ein Schlachtschiff damit anzutreiben. Er lächelte, und man sah ihm an, wie zufrieden er mit seinen Ideen war. Wir lächelten zurück, weil Professoren die Macht haben. Er sagte, Lehrer müßten darauf achten, wie die Schüler sich präsentieren. Er sagte, sehrviel – ich wiederhole, sehrviel – hängt davon ab, wie sie einen Raum betreten. Beobachten Sie sie beim Hereinkommen. Sie schlendern, sie stolzieren, sie schlurfen, sie rempeln, sie scherzen, sie spielen sich auf. Sie selbst finden vielleicht nichts Besonderes daran, einen Raum zu betreten, aber für einen Teenager kann es alles bedeuten. Beim Betreten eines Raums wechselt man aus einer Umgebung in eine andere, und für einen Teenager kann das traumatisch sein. Drachen könnten dort lauern, Greuel des Alltags, von Akne bis Zecke.
Ich verstand kaum, wovon der Professor redete, aber ich war
sehr beeindruckt. Ich hätte nie gedacht, daß es beim Betreten eines Raums so viel zu beachten gab. Unterrichten stellte ich mir ganz einfach vor: Man erzählt den Schülern, was man weiß, und irgendwann hält man Prüfungen ab und verteilt Noten. Jetzt wurde mir klar, wie kompliziert das Leben eines Lehrers sein konnte, und ich bewunderte den Professor, weil er alles darüber wußte.
Der Student neben mir flüsterte mir zu, der Typ hat sie nicht alle. Der hat sein Leben lang noch an keiner High School unterrichtet. Der Student hieß Seymour. Er trug eine Kippa, also war es kein Wunder, daß er ab und zu eine kluge Bemerkung machte, aber vielleicht wollte er sich auch nur vor der Rothaarigen aufspielen, die vor ihm saß. Wenn sie sich umdrehte, um über Seymours Bemerkungen zu lächeln, sah man, daß sie schön war. Ich hätte mich gern selbst vor ihr aufgespielt, aber ich wußte nie, was ich sagen sollte, während
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