Tag und Nacht und auch im Sommer
sie mich anders an als sonst. Wenn Unterrichten jeden Tag so sein könnte, würde ich liebend gern bis achtzig weitermachen. Schaut ihn euch an, den alten Silberschopf auf dem Podium, schon ein wenig gebeugt, aber unterschätzt ihn nicht. Stellt ihm einfach nur eine Frage über den Bau eines Satzes, und er wird sich aufrichten und euch die Geschichte erzählen, wie er damals Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts Psychologie und Grammatik unter einen Hut gebracht hat.
6
M ikey Dolan gab mir eine handgeschriebene Mitteilung seiner Mutter, in der sie erklärte, warum er tags zuvor nicht in die Schule gekommen war:
Sehr geehrter Mr. McCourt, Mikeys Großmutter die meine Mutter ist und achtzig ist die Treppe runtergefallen weil sie zuviel Kaffee getrunken hat und ich hab Mikey dabehalten damit er sich um sie und sein kleines Schwesterchen kümmert und ich auf Arbeit gehen konnte in dem Coffeeshop in der Fährstation. Bitte entschuldigen Sie Mikey und er wird in Zukunft sein Bestes tun weil er nämlich Ihren Unterricht mag. Hochachtungsvoll Ihre Imelda Dolan. P. S. Seiner Großmutter geht es gut.
Als Mikey mir die Entschuldigung überreichte, die er ganz ungeniert vor meiner Nase gefälscht hatte, sagte ich nichts. Ich hatte gesehen, wie er sie unter dem Tisch geschrieben hatte, mit der linken Hand, um seine Handschrift unkenntlich zu machen – die beste in der ganzen Klasse, weil er auf katholische Grundschulen gegangen war. Den Nonnen war es gleichgültig, ob man in den Himmel oder in die Hölle kam oder eine Protestantin heiratete, solange man nur eine klare, saubere Handschrift hatte, und wenn man auf diesem Gebiet versagte, bogen sie einem die Daumen nach hinten, bis man um Gnade winselte und gelobte, sich eine Schönschrift zuzulegen, die einem die Himmelspforte aufschließen würde. Wenn man übrigens mit der linken Hand schrieb, war das ein klarer Beweis dafür, daß man von Geburt an einen satanischen Einschlag hatte, und dann war es die heilige Pflicht der Klosterschwestern, einem die Daumen nach hinten zu biegen, sogar hier in Amerika, dem Land der Freien und der Heimat der Tapferen.
Mikey also hatte sich mit der linken Hand abgemüht, um seine edle katholische Kalligraphie zu verbergen. Es war nicht das erste Mal, daß er sich selbst eine Entschuldigung schrieb, aber ich sagte nichts, denn die meisten elterlichen Entschuldigungsschreiben in meiner Schublade stammten von den Schülern und Schülerinnen selbst, und hätte ich jeden Fälscher zur Rechenschaft ziehen wollen, wäre ich zu sonst nichts mehr gekommen. Außerdem hätte das bloß böses Blut gemacht, Gefühle verletzt und die Beziehungen zwischen ihnen und mir kompliziert.
Einen fragte ich einmal, hat diese Entschuldigung wirklich deine Mutter geschrieben, Danny?
Er reagierte abwehrend, feindselig. Ja, die hat meine Mutter geschrieben.
Das ist eine nette Entschuldigung, Danny. Sie kann gut schreiben.
McKee-Schüler waren stolz auf ihre Mütter, und nur ein ausgemachter Flegel hätte sich für ein solches Kompliment nicht bedankt.
Er sagte danke und kehrte auf seinen Platz zurück.
Ich hütete mich, ihn zu fragen, ob er die Entschuldigung selbst verfaßt hatte. Ich mochte ihn und wollte nicht, daß er mürrisch in der dritten Reihe saß. Er hätte seinen Klassenkameraden erzählt, daß ich ihn verdächtigte, und dann wären die anderen womöglich auch sauer geworden, denn alle fälschten Entschuldigungen, seit sie schreiben konnten, und hätten es nicht eingesehen, daß ihnen ein Lehrer nach so vielen Jahren plötzlich mit Moral kam.
Entschuldigungen sind etwas ganz Normales im Schulalltag. Jeder weiß, daß sie getürkt sind, also wozu einen Riesenwirbel machen?
Eltern, die morgens die Kinder rechtzeitig aus dem Haus kriegen müssen, haben wenig Zeit, Entschuldigungen zu schreiben, die in der Schule sowieso nur im Papierkorb landen. Sie haben es so eilig, daß sie sagen, ach, du brauchst noch eine Entschuldigung
für gestern, Schatz? Schreib sie dir selber, und ich unterschreib sie. Sie unterschreiben sie blind, und das Traurige daran ist, daß sie gar nicht wissen, was sie sich entgehen lassen. Könnten sie die Entschuldigungen lesen, würden sie feststellen, daß ihre Kinder zu bester amerikanischer Prosa fähig sind: flüssig, einfallsreich, klar, dramatisch, phantastisch, konzis, überzeugend, brauchbar.
Ich legte Mikeys Entschuldigung in eine Schublade, in der bereits Dutzende davon lagen: Zettel jeder Größe und Farbe, bekritzelt,
Weitere Kostenlose Bücher