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Tag und Nacht und auch im Sommer

Tag und Nacht und auch im Sommer

Titel: Tag und Nacht und auch im Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank McCourt
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zerknittert, fleckig. Während meine Klasse an dem Tag eine Klausur schrieb, las ich zum ersten Mal die Entschuldigungen, die ich bis dahin nur überflogen hatte. Ich machte zwei Häufchen, eines für die echten, von Müttern verfaßten, das andere für die Fälschungen. Der zweite Stoß war dicker, und die Texte reichten von Genie bis Wahnsinn.
    Mir kam eine Erleuchtung. Ich hatte mich schon immer gefragt, wie ich mich bei einer Erleuchtung fühlen würde, und jetzt wußte ich es. Ich fragte mich auch, warum mir diese Erleuchtung nicht schon früher zuteil geworden war.
    Ist es nicht seltsam, dachte ich, wie hartnäckig die sich gegen jede Aufgabe, ob im Unterricht oder für zu Hause, sträuben, bei der sie etwas schreiben müssen? Sie jammern und schützen Überlastung vor, und es fällt ihnen offensichtlich schwer, auch nur zweihundert Wörter zu Papier zu bringen, egal, über welches Thema. Aber beim Fälschen von Entschuldigungen entpuppen sie sich als kleine Genies. Warum? Ich habe eine Schublade voller Entschuldigungen, aus denen man eine Anthologie zusammenstellen könnte – Große amerikanische Ausreden oder Große amerikanische Lügen.
    Die Schublade war voller Beispiele für amerikanische Könnerschaft, die nie in einen Song, eine Geschichte oder eine gelehrte Abhandlung eingehen würden. Wie war es möglich, daß ich diese Fundgrube bisher nicht beachtet hatte, diese Juwelen der Fiktion, Phantasie, Kreativität, Frömmelei, des Selbstmitleids,
der Familienprobleme, der explodierenden Boiler, einstürzenden Decken, Feuersbrünste, Babys und Haustiere, die auf Schularbeiten pinkelten, unerwarteten Entbindungen, Herzinfarkte, Schlaganfälle, Fehlgeburten, Raubüberfälle? Das war amerikanische High-School-Prosa erster Güte – packend, realistisch, engagiert, geistvoll, knapp, verlogen:
    Aus dem Ofen schlugen Flammen, die Tapete geriet in Brand, und die Feuerwehr hat uns die ganze Nacht nicht mehr ins Haus gelassen.
    Die Toilette war verstopft, und wir mußten die Straße hinunter bis in die Kilkenny Bar gehen, wo mein Cousin arbeitet, um die Toilette dort zu benutzen, aber die war von der vorangegangenen Nacht ebenfalls verstopft, und Sie können sich vorstellen, wie schwer es für meinen Ronnie war, sich für die Schule fertigzumachen. Ich hoffe Sie entschuldigen ihn ausnahmsweise und es wird nicht wieder vorkommen. Der Mann in der Kilkenny Bar war sehr nett, weil er Ihren Bruder kennt, Mr. McCord.
    Arnold konnte seine Schularbeiten nicht machen, weil er gestern aus dem Zug gestiegen ist und seine Schultasche in der Tür eingeklemmt wurde und der Zug sie ihm entriß. Er rief nach dem Schaffner, aber der überschüttete ihn mit ordinären Beschimpfungen, während der Zug davonfuhr. Dagegen sollte man einmal etwas unternehmen.
    Der Hund seiner Schwester hat seine Schularbeit aufgefressen, und ich hoffe, er erstickt daran.
    Ihr kleiner Bruder hat auf ihren Aufsatz gepinkelt, als sie heute morgen im Bad war.
    Der Mann über uns ist in der Badewanne gestorben, und sie ist übergelaufen, und das Wasser hat Robertas Schularbeiten unbrauchbar gemacht, die auf dem Tisch lagen.
    Ihr großer Bruder war wütend auf sie und hat ihren Aufsatz aus dem Fenster geworfen, und die Blätter sind über ganz Staten Island geflogen, was sehr bedauerlich ist, weil die Leute sie
lesen und einen falschen Eindruck bekommen werden, außer sie lesen auch das Ende, wo alles erklärt wird.
    Er hatte den Aufsatz, den er für Sie schreiben mußte, schon fertig, hat ihn aber auf der Fähre noch einmal durchgelesen, und da kam ein starker Windstoß und hat ihm die Blätter aus der Hand gerissen.
    Wir sind aus unserer Wohnung zwangsgeräumt worden und der fiese Sheriff hat gesagt, wenn mein Sohn weiter so nach seinem Schulheft schreit werden wir alle festgenommen.
    Ich stellte mir die Verfasser der Entschuldigungen vor, im Bus, im Zug, auf der Fähre, im Coffeeshop, auf der Parkbank, wie sie sich den Kopf zerbrachen, um plausible neue Erklärungen zu finden und so zu schreiben, wie ihrer Meinung nach ihre Eltern schreiben würden.
    Sie wußten nicht, daß ehrliche Entschuldigungen von Eltern im allgemeinen banal sind. »Peter ist zu spät gekommen, weil der Wecker nicht geklingelt hat.« Eine solche Entschuldigung verdiente nicht einmal einen Platz im Abfallkorb.
    Gegen Schuljahresende tippte ich ein Dutzend Entschuldigungen auf eine Matrize und verteilte die Abzüge an meine beiden höchsten Klassen. Sie lasen sie, schweigend und

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