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Tag und Nacht und auch im Sommer

Tag und Nacht und auch im Sommer

Titel: Tag und Nacht und auch im Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank McCourt
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nur ein Mindestmaß an Intelligenz, abgesehen von bloßen Regungen des Selbsterhaltungstriebs, hätte ich eine schmerzliche Bestandsaufnahme meines Lebens versucht. Aber Introspektion war nicht meine Stärke. Zwar machte mir in puncto Gewissenserforschung nach den vielen Jahren Beichte in Limerick keiner was vor, aber hier ging es um etwas anderes. Hier war Mutter Kirche keine Hilfe. In diesem Liegestuhl erfuhr ich die Grenzen des Katechismus. Allmählich begriff ich, daß ich nichts verstand, und das Grübeln und meine allgemeine
Misere verursachten mir Kopfschmerzen. Ich stand mit achtunddreißig vor einem Scherbenhaufen und wußte nicht, was ich anders machen sollte. So wenig Ahnung hatte ich. Heute weiß ich, daß man ständig dazu ermuntert wird, alles und jeden, nur nicht sich selbst, für alles verantwortlich zu machen: die Eltern, die unglückliche Kindheit, die Kirche, die Engländer.
    In New York hatten mir mehrere Leute, vor allem jedoch Alberta gesagt, du brauchst Hilfe. Sie sagten, du bist offensichtlich gestört. Du solltest zu einem Seelenklempner gehen.
    Alberta ließ nicht locker. Sie sagte, mit mir könne man nicht leben, und vereinbarte für mich einen Termin bei einem Psychoanalytiker in der East Ninety-sixth Street, der Straße der Seelenklempner. Der Mann hieß Henry, und ich fing schon auf dem falschen Fuß an, als ich ihm sagte, er sehe aus wie Jeeves. Er fragte, wer ist Jeeves? und war nicht erbaut, als ich ihm von dieser Wodehouse-Figur erzählte. Er zog ganz wie Jeeves die Brauen hoch, und ich kam mir blöd vor. Außerdem wußte ich nicht, was das alles sollte, was ich in dieser Praxis verloren hatte. Aus den Psychologievorlesungen an der NYU wußte ich, daß der Mensch als geistiges Wesen in mehrere Teile zerfällt, das Bewußtsein, das Unbewußte, das Unterbewußte, das Ich, das Es, die Libido und vielleicht noch ein paar andere Ecken und Winkel, in denen Dämonen lauerten. So weit reichte mein Wissen, wenn man es überhaupt so nennen kann. Dann fragte ich mich, warum ich Geld, das dringend anderweitig gebraucht wurde, dafür ausgab, diesem Menschen gegenüberzusitzen, der auf Kinnhöhe in ein Notizbuch kritzelte und hin und wieder innehielt, um mich wie ein biologisches Präparat zu beäugen.
    Er sprach nur selten, und ich hatte das Gefühl, die Pausen ausfüllen zu müssen, sonst hätten wir nur dagesessen und einander angestiert. Nie sagte er wenigstens, und wie fühlen Sie sich dabei?, wie man es so oft im Kino sieht. Wenn er sein Notizbuch zuklappte, wußte ich, daß die Sitzung vorbei war und ich ihm sein Honorar hinblättern mußte. Am Anfang hatte er
mir gesagt, er werde mir nicht den vollen Honorarsatz berechnen. Ich bekäme den Arme-Lehrer-Rabatt. Ich hätte ihm am liebsten gesagt, ich sei kein Fürsorgefall, aber ich sprach nur selten aus, was mir durch den Kopf ging.
    Sein Verhalten flößte mir Unbehagen ein. Er kam immer ins Wartezimmer und blieb stehen. Das war für mich das Zeichen, mich zu erheben und ins Behandlungszimmer zu gehen. Er gab mir nie die Hand, grüßte nicht einmal. Ich fragte mich, ob es meine Aufgabe war, guten Tag zu sagen oder ihm die Hand zu reichen, und wie er es beurteilen würde, wenn ich es täte. Würde er sagen, das sei nur Ausdruck eines übermächtigen Minderwertigkeitsgefühls? Ich wollte ihm keine Argumente dafür liefern, mich als Irren einzustufen, wie es unter meinen Vorfahren einige gegeben hatte. Ich wollte ihn mit meinem lässigen Auftreten, meiner Logik und, soweit möglich, meinem Esprit beeindrucken.
    In der ersten Stunde beobachtete er mich, während ich überlegte, wie ich mich verhalten sollte. Würde das auf eine Art Beichte hinauslaufen? Auf Gewissenserforschung? Sollte ich mich in den hohen Sessel setzen oder mich, wie man es aus Filmen kennt, auf die Couch legen? Wenn ich mich in den Sessel setzte, mußte ich ihn fünfzig Minuten lang ansehen, streckte ich mich dagegen auf der Couch aus, konnte ich zur Decke schauen und seinem Blick ausweichen. Ich setzte mich in den Sessel, und er nahm in seinem Sessel Platz, und ich war erleichtert, als ich kein Zeichen der Mißbilligung an ihm wahrnahm.
    Nach ein paar Besuchen hätte ich gern aufgehört und wäre in eine Bar an der Third Avenue gegangen, um mir mit dem einen oder anderen Bierchen einen gemütlichen Nachmittag zu machen. Ich hatte nicht den Mut dazu, oder ich war nicht zornig genug, noch nicht. Woche um Woche saß ich in dem Sessel und plapperte vor mich hin, zum Teil sogar

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