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Tag und Nacht und auch im Sommer

Tag und Nacht und auch im Sommer

Titel: Tag und Nacht und auch im Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank McCourt
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61 250 Wörter, die man abends und am Wochenende lesen, korrigieren, beurteilen und benoten mußte. Und das auch nur, wenn man so klug war, pro Woche nur eine Arbeit aufzugeben. Man mußte Rechtschreibfehler, falsche Grammatik, schlechte Gliederung, schwache Übergänge und allgemeine Flüchtigkeitsfehler korrigieren. Man mußte Vorschläge zum Inhalt machen und einen Kommentar zur Erläuterung der Note schreiben. Man erinnerte die Schüler, daß es keine Pluspunkte für Arbeiten gab, die mit Ketchup, Mayonnaise, Kaffee, Cola, Tränen, Fettflecken oder Schuppen verziert waren. Man gab ihnen den eindringlichen Rat, die Arbeiten an
einem Schreibtisch oder einem normalen Tisch zu verfassen und nicht im Zug, im Bus, auf einer Rolltreppe oder im Trubel von Joes Pizzeria nebenan.
    Rechnet man für jede einzelne Arbeit nur fünf Minuten, kommt man schon bei einer Arbeit pro Klasse und Woche auf einen Zeitaufwand von vierzehn Stunden und fünfunddreißig Minuten, also gut zwei Schultage. Ade, Wochenende.
    Man zögert, Buchbesprechungen aufzugeben. Die sind länger und mit Plagiaten durchsetzt.
    Jeden Tag trug ich Bücher und Klassenarbeiten in einer braunen Kunstledertasche nach Hause, mit dem Vorsatz, mich gemütlich im Sessel niederzulassen und die Arbeiten zu lesen, aber nach einem Tag mit fünf Klassen und hundertfünfundsiebzig Teenagern hatte ich nicht die geringste Neigung, auch noch den Abend mit ihren Elaboraten zu verbringen. Herrgott noch mal, das kann warten. Ich hatte mir ein Glas Wein oder eine Tasse Tee verdient. Die Arbeiten würde ich mir später vornehmen. Jawohl, eine schöne Tasse Tee und die Zeitung oder ein Spaziergang um den Block oder ein paar Minuten mit meiner kleinen Tochter, damit sie mir erzählen konnte, wie es in der Schule gewesen war und was sie mit ihrer Freundin Claire gemacht hatte. Und die Zeitung mußte ich wenigstens überfliegen, um auf dem laufenden zu bleiben. Ein Englischlehrer sollte wissen, was sich in der Welt tut. Man wußte nie, wann einer der Schüler eine Frage zur Außenpolitik oder zu einem neuen Off-Broadway-Stück stellen würde. Keine angenehme Vorstellung, da vorne zu stehen und den Mund auf- und zuzuklappen, ohne daß was herauskommt.
    So sieht das Leben des Englischlehrers an der High School aus.
     
    Die Tasche stand in einer Ecke neben der Küche auf dem Boden, nie ganz außer Sicht oder aus dem Sinn, ein Tier, ein Hund, der auf Zuwendung wartet. Sie ließ mich nicht aus den Augen. Ich
wollte sie aber auch nicht in einem Schrank verstecken, aus Angst, ich könnte völlig vergessen, daß ich noch Arbeiten korrigieren mußte.
    Sie noch vor dem Abendessen zu lesen hatte keinen Sinn. Lieber auf nachher verschieben, beim Abspülen helfen, meine Tochter ins Bett bringen, und dann ran an die Arbeit. Hol die Tasche her, Mann. Setz dich auf die Couch, wo du die Sachen ausbreiten kannst, leg dir eine Platte auf oder mach das Radio an. Nichts, was ablenkt. Nur akustischer Sirup. Musik, bei der man Arbeiten benoten kann. Mach’s dir auf der Couch gemütlich.
    Leg erst noch ein Weilchen den Kopf zurück, bevor du den ersten Aufsatz liest, den du auf dem Schoß hast, »Mein Stiefvater, der Mistkerl«. Schon wieder Teenagerangst. Schließ einen Moment die Augen. Ah … laß dich treiben, Lehrer … Du schwebst. Ein leises Schnarchen weckt dich. Blätter auf dem Boden. Jetzt aber. Den Aufsatz überfliegen. Gut geschrieben. Auf den Punkt gebracht. Klar gegliedert. Bitter. Oh, was dieses Mädchen da über ihren Stiefvater schreibt, daß er ein bißchen zu vertraut mit ihr umgeht. Lädt sie ins Kino und zum Abendessen ein, wenn die Mutter Überstunden macht. Und wie er sie ansieht. Mutter sagt, ach, das ist ja nett, aber sie hat so einen Ausdruck in den Augen, und dann Stille. Die Verfasserin fragt sich, was sie tun soll. Fragt sie mich, ihren Lehrer? Und sollte ich etwas tun? Soll ich reagieren, ihr aus dem Dilemma helfen? Wenn es überhaupt ein Dilemma gibt. Soll ich meine Nase in Familienangelegenheiten stecken, wo sie nicht hingehört? Vielleicht hat sie alles nur erfunden. Was, wenn ich etwas sage, und sie geht damit zu Stiefvater oder Mutter? Ich könnte diesen Aufsatz objektiv lesen und benoten, der Verfasserin zur Klarheit ihres Stils und der Entwicklung ihres Themas gratulieren. Dafür bin ich doch da, oder? Ich darf mich nicht in jede kleine familiäre Streitigkeit einmischen, schon gar nicht an der Stuyvesant, wo man dazu neigt, »die Dinge beim Namen zu nennen«.

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