Tag und Nacht und auch im Sommer
geschafft habe. Er sei glücklich, hier zu sein, und seine ganze Familie sei stolz auf ihn. Die Menschen daheim in China seien stolz auf ihn. Er habe es mit vierzehntausend anderen aufnehmen müssen, um an diese Schule zu kommen. Sein Vater arbeite sechs Tage die Woche, täglich zwölf Stunden, in einem Restaurant in Chinatown. Seine Mutter arbeite downtown in einer Fabrik. Jeden Abend mache sie Essen
für die ganze Familie – die fünf Kinder, ihren Mann und sich selbst. Dann helfe sie ihnen noch, ihre Kleider für den nächsten Tag herzurichten. Jeden Monat lasse sie die Kleineren Sachen von den Älteren anprobieren, um zu sehen, ob sie ihnen paßten. Sie sage immer, wenn einmal alle groß seien und keinem mehr die Sachen der älteren Geschwister paßten, würde sie die Kleider für die nächste Familie aus China aufheben oder sie gleich rüberschicken. Amerikaner könnten sich überhaupt nicht vorstellen, wie begeistert eine chinesische Familie sei, wenn sie etwas aus Amerika geschickt bekommt. Seine Mutter sorge dafür, daß die Kinder sich an den Küchentisch setzten und ihre Hausaufgaben machten. Er könne seine Eltern nicht mit so albernen Namen wie Mom oder Dad rufen. Das wäre respektlos. Sie lernten jeden Tag neue englische Wörter, damit sie mit den Lehrern reden und mit den Kindern mithalten könnten. Ben sagte, in seiner Familie respektiere jeder jeden, und sie würden nie über einen Lehrer lachen, der über die armen Menschen in Frankreich redet, weil das genausogut in China oder sogar in Chinatown hier mitten in New York sein könnte.
Ich sagte, die Geschichte seiner Familie sei eindrucksvoll und bewegend, und ob es nicht eine Huldigung an seine Mutter wäre, sie aufzuschreiben und im Unterricht vorzulesen.
O nein, das könne er niemals tun, unter keinen Umständen.
Warum nicht? Seine Mitschüler würden doch bestimmt etwas daraus lernen und dann mehr zu schätzen wissen, was sie alles hätten.
Er sagte, nein, er könne niemals über seine Familie schreiben oder vor anderen über sie sprechen, weil sein Vater und seine Mutter sich schämen würden.
Ben, ich fühle mich geehrt, daß du mir von deiner Familie erzählt hast.
Ach, ich wollte Ihnen nur etwas sagen, was ich keinem in der Klasse sagen würde, nur für den Fall, daß es Ihnen nach dieser Stunde schlechtgeht.
Danke, Ben.
Ich danke Ihnen, Mr. McCourt, und machen Sie sich keine Gedanken wegen Sylvia. Sie mag Sie nämlich.
Am nächsten Tag blieb Sylvia nach der letzten Stunde zurück. Mr. McCourt, wegen gestern. Ich hab’s nicht bös gemeint.
Ich weiß, Sylvia. Du wolltest helfen.
Die andern haben es auch nicht bös gemeint. Die müssen sich nur die ganze Zeit von Erwachsenen und von Lehrern anschreien lassen. Aber ich hab verstanden, was Sie gemeint haben. Ich muß mir jeden Tag allerhand anhören, wenn ich durch meine Straße in Brooklyn gehe.
Was denn?
Tja, es ist nämlich so. Ich wohne in Bedford-Stuyvesant. Kennen Sie Bed-Stuy?
Ja. Ein Schwarzenviertel.
Aus meiner Straße schafft’s kein Schwein aufs College. Ups.
Was ist?
Ich hab »kein Schwein« gesagt. Wenn meine Mutter hört, daß ich »kein Schwein« sag, läßt sie mich hundertmal schreiben, »Ich darf nicht kein Schwein sagen.« Und dann muß ich es noch hundertmal sagen. Was ich sagen will: Wenn ich nach Hause gehe, hänseln mich die Kids auf der Straße immer. Ah, da kommt sie ja. Da kommt unsre Bleichnase. He, Doc, wenn du dich am Arm kratzt, kommt’s dann weiß ? Die nennen mich Doc, weil ich will nämlich Ärztin werden. Natürlich tun mir die armen Franzosen leid, aber wir in Bed-Stuy haben auch unsere Probleme.
Was für eine Ärztin möchtest du werden?
Kinderärztin oder Psychiaterin. Ich möchte an die Kinder rankommen, bevor sie auf der Straße landen und von allen Seiten hören, daß sie nichts taugen, weil ich seh nämlich Kinder bei uns in der Nachbarschaft, die trauen sich nicht zu zeigen, wie schlau sie sind, und in Null Komma nix bauen sie irgendwelchen Mist auf leeren Grundstücken oder in ausgebrannten
Häusern. Es gibt nämlich einen Haufen, ich mein, es gibt ziemlich viele schlaue Kinder in schlechten Wohnvierteln.
Mr. McCourt, erzählen Sie uns morgen eine von Ihren irischen Geschichten?
Für dich, Fräulein Doktor, würde ich ganze Bände vortragen. Diese Geschichte ist mir im Gedächtnis geblieben wie ein Stein, für immer. Als ich vierzehn war, hab ich als Telegrammbote gearbeitet, daheim in Irland. Eines Tages hatte ich ein Telegramm
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