Tag und Nacht und auch im Sommer
Schließlich müsse sich ein Mann stärken für die lange Fahrt zu seiner Wohnung am anderen Ende von Brooklyn. Manchmal fuhr er mich auch heim, an Drei-Martini-Tagen langsam und bedächtig. Dann thronte er auf dem Kissen, das er sich unterlegen mußte, um übers Armaturenbrett schauen zu können, und hielt das Lenkrad fest, als müsse er einen Schlepper im Hafen steuern. Am nächsten Tag gestand er dann, daß er sich kaum an die Fahrt erinnerte.
Zum erstenmal in meiner Lehrerlaufbahn fühlte ich mich im Klassenzimmer als mein eigener Herr. Ich konnte unterrichten, was ich wollte. Wenn Außenstehende den Kopf durch die Tür steckten, spielte das keine Rolle. Nach seinen seltenen Unterrichtsbesuchen schrieb Roger enthusiastische Berichte. Mein Widerstand gegen jeden auf der Welt, der eine oder zwei Stufen über mir stand, wurde von ihm gebrochen. Ich sagte ihm, was ich in meinen Klassen machte, und bekam nur Unterstützung. Ab und zu ließ er eine Bemerkung darüber fallen, wie wichtig Satzdiagramme seien, und dann versprach ich ihm, es zu versuchen. Nach einer Weile war es nur noch ein Witz.
Ich versuchte es, aber vergeblich. Ich malte senkrechte, waagrechte und schräge Linien, und dann stand ich hilflos an der
Tafel, bis ein chinesischer Schüler sich erbot, meine Stelle einzunehmen und dem Lehrer beizubringen, was der Lehrer hätte wissen müssen.
Meine Schüler waren geduldig, aber ich merkte an den Blikken, die sie wechselten, und an dem regen Austausch von Zetteln, daß ich mich in einem Grammatikdschungel befand. An der Stuyvesant hatten sie es nicht nur mit der englischen, sondern auch mit der spanischen, französischen, deutschen, hebräischen, italienischen und lateinischen Grammatik zu tun.
Roger hatte Verständnis. Er sagte, vielleicht sind Satzdiagramme nicht Ihre Stärke. Er meinte, manche hätten einfach nicht die Veranlagung dazu. R’lene Dahlberg habe sie. Und Joe Curran natürlich. Aber der sei auch auf der Boston Latin gewesen, einer Schule zweieinhalb Jahrhunderte älter als die Stuyvesant und, so behauptete er, noch viel renommierter. An der Stuyvesant zu unterrichten sei für Curran eigentlich ein Abstieg. Er könne Satzdiagramme in Griechisch und Latein und wahrscheinlich auch in Französisch und Deutsch erstellen. Das ist eben die Ausbildung, die man an der Boston Latin bekommt. Jesse Lowenthal sei ebenfalls ein Könner, aber das sei auch kein Wunder. Er war der älteste Lehrer des Fachbereichs, mit seinen eleganten Dreiteilern, der goldenen Uhrkette über der Weste, seiner Goldrandbrille, seinen Manieren aus der guten alten Zeit und seiner Gelehrsamkeit. Jesse wollte nicht in Pension gehen, doch als es dann doch soweit war, nahm er sich vor, seine Tage mit dem Studium des Griechischen zu verbringen und mit Homer auf den Lippen ins Jenseits hinüberzugleiten. Für Roger war es ein beruhigender Gedanke, daß er in seinem Fachbereich einen festen Stamm von Lehrern hatte, die aus dem Stegreif Satzdiagramme erstellen konnten.
Roger fand es betrüblich, daß Joe Curran solche Probleme mit dem Alkohol hatte. Sonst hätte er Jesse stundenlang aus dem Gedächtnis mit Homer und, falls Jesse dem gewachsen war, mit Vergil und Horaz unterhalten können, und sogar mit
dem einen, den Joe aufgrund seines eigenen gewaltigen Zorns über alle anderen stellte, mit Juvenal.
In der Lehrerkantine sagte mir Joe, lesen Sie Ihren Juvenal, damit Sie verstehen, was mit unserem jämmerlichen Scheißland los ist.
Roger sagte, das mit Jesse sei jammerschade. Da steht er nun vor seinem Lebensabend mit weiß der Himmel wieviel Berufsjahren auf dem Buckel. Er hat nicht mehr die Kraft für fünf Stunden pro Tag. Er hat gebeten, sein Pensum auf vier Stunden herabzusetzen, aber nein, o nein, der Rektor sagt nein, der Schulrat sagt nein, die ganze bürokratische Hierarchie hinauf sagen alle nein, und Jesse sagt ade. Hallo, Homer. Hallo, Ithaka. Hallo, Troja. So ist Jesse. Wir verlieren einen großartigen Lehrer, und Mann, Diagramme konnte der zeichnen! Was der mit einem Satz und einem Stück Kreide gemacht hat, da blieb einem die Spucke weg. Wunderschön.
Wenn man die Jungen und Mädchen an der Stuyvesant High School bat, dreihundertfünfzig Wörter über irgendein Thema zu schreiben, konnte es passieren, daß sie fünfhundert ablieferten. Sie hatten Wörter im Überfluß.
Bat man alle Schüler in seinen fünf Klassen, pro Nase dreihundertfünfzig Wörter zu schreiben, und multiplizierte dann 175 mit 350, ergab das
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