Tag und Nacht und auch im Sommer
Meine
Kollegen sagen mir, daß die Hälfte der Schüler eine Therapie macht und die andere Hälfte sich daran ein Beispiel nehmen sollte. Ich bin kein Sozialarbeiter und kein Therapeut. Ist das ein Hilferuf oder wieder nur eine Teenagerphantasie? Nein, nein, zu viele Probleme in diesen Klassen. An den anderen Schulen waren die Kinder nie so. Die haben die Schulstunde nicht zur Gruppentherapie umfunktioniert. Die Stuyvesant ist da anders. Ich könnte den Aufsatz einem Beratungslehrer zeigen. Hier, Sam, kümmern Sie sich da mal drum. Tue ich es nicht, und irgendwann kommt raus, daß der Stiefvater das Mädchen mißbraucht hat, so daß alle Welt erfährt, daß ich nichts unternommen habe, dann werden mich hohe Herren der Schulaufsicht zu sich bestellen: Konrektoren, Rektoren, Schulräte. Und Erklärungen verlangen. Wie konnten Sie, ein erfahrener Lehrer, da untätig bleiben? Womöglich würde mein Name sogar auf Seite drei der Boulevardzeitungen prangen.
Streich ein paar Sachen rot an. Gib ihr 98 Punkte. Der Stil ist phantastisch, aber sie macht Rechtschreibfehler. Beglückwünsche sie zu ihrer aufrichtigen und reifen Ausdrucksweise, und sag ihr, Janice, du hast die allerbesten Anlagen, und ich hoffe, in den nächsten Wochen noch mehr solche Arbeiten von dir zu sehen.
Über das Privatleben von Lehrern haben sie Vorstellungen, die ich ihnen ausreden möchte. Ich sage ihnen, sucht euch einen eurer Lehrer aus – oder eine Lehrerin –, aber sagt niemandem den Namen. Schreibt ihn auch nicht auf. Und jetzt überlegt mal. Was macht dieser Lehrer so jeden Tag nach Schulschluß? Wo geht er hin?
Ihr wißt es. Nach der Schule fährt der Lehrer gleich nach Hause. Er nimmt eine Tasche voller Arbeiten mit, die er korrigieren muß. Vielleicht trinkt er mit seiner Frau eine Tasse Tee. O nein, ein Glas Wein trinkt der Lehrer nie. Das ist nicht der Stil von Lehrern. Die gehen nie aus. Vielleicht mal ins Kino, am Wochenende. Sie essen zu Abend. Bringen die Kinder ins Bett.
Sie schauen Nachrichten, bevor sie sich noch einmal hinsetzen, um Arbeiten zu korrigieren. Um elf dann noch eine Tasse Tee oder ein Glas warme Milch, zum Einschlafen. Dann ziehen sie ihren Schlafanzug an, geben der Frau einen Kuß und schlafen ein.
Schlafanzüge von Lehrern sind immer aus Baumwolle. Was sollte ein Lehrer mit einem Seidenpyjama anfangen? Und nein, sie schlafen auch nie nackt. Wenn man Nacktheit andeutet, erschrecken die Schüler. Mann, kannst du dir irgendwelche Lehrer an unserer Schule nackt vorstellen? Das löst immer schallendes Gelächter aus, und ich frage mich, ob sie dasitzen und sich Mr. McCourt nackt vorstellen.
Woran denken Lehrer zuletzt, bevor sie einschlafen?
Vor dem Einschlafen denken all diese Lehrer, wohlig warm in ihren Baumwollpyjamas, nur daran, was sie am nächsten Tag unterrichten werden. Lehrer sind gut, anständig, pflichtbewußt und gewissenhaft, und sie würden nie ein Bein über den Menschen legen, der neben ihnen liegt. Vom Bauchnabel abwärts ist der Lehrer tot.
Im dritten Jahr an der Stuyvesant High School, 1974, bietet man mir an, der neue Lehrer für Kreatives Schreiben zu werden. Roger Goodman sagt, Sie schaffen das.
Ich habe keine Ahnung, wie man schreibt oder gar Schreiben unterrichtet. Keine Sorge, sagt Roger. Hierzulande unterrichten das Hunderte von Lehrern und Professoren, und die meisten von ihnen haben noch nie eine Zeile veröffentlicht.
Sie dagegen, sagt Bill Ince, Rogers Nachfolger, Sie haben hier und da eigene Texte veröffentlicht. Ich entgegne, nach den paar Sachen in der Village Voice , in Newsday und in einer eingegangenen Dubliner Zeitschrift sei ich noch längst nicht prädestiniert, Kreatives Schreiben zu unterrichten. Bald würden alle merken, daß ich mich dabei anstelle wie die Kuh beim Harfenspiel. Doch mir fiel ein, was meine Mutter immer gesagt
hatte: Gott helfe uns, aber manchmal muß man seinen Arm riskieren.
Ich bringe es nie über mich zu sagen, daß ich Kreatives Schreiben oder Literatur unterrichte, zumal ich ständig selbst weiterlerne. Statt dessen sage ich immer, daß ich einen Kurs halte oder eine Klasse leite.
Ich habe die üblichen fünf Stunden täglich, drei »reguläre« Englischstunden und zwei in Kreativem Schreiben. Ich bin Klassenlehrer von siebenunddreißig Schülern mit den dazugehörigen administrativen Aufgaben. In jedem Halbjahr werden mir andere Aufsichtspflichten zugewiesen: Kontrollgänge in Fluren und Treppenhäusern, Kontrolle der Knabentoiletten auf
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