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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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Spitzenunternehmens zu stecken.
    »Trink aus, Granny.« Ich stand auf und legte ihr meine Hand auf die Schulter. »Ich fahre dich heim.« Sie blaffte mich nicht einmal dafür an, dass ich sie Granny genannt hatte. Nickte nur, ohne etwas zu sagen, und leerte ihre Drinks wie ein gehorsames Kind. Als sie aufstand, bemerkte ich, wie betrunken sie war. So betrunken wie einer dieser Affen, mit denen sie sich wahrscheinlich am Amazonas durch die Bäume geschwungen hatte (dort war sie übrigens während der letzten sechs Wochen gewesen).
    Ich hielt vor ihrem Haus und bot ihr an, diese Nacht bei ihr zu bleiben, wusste aber von vornherein, dass sie ablehnen würde.

    »Nein«, sagte sie beleidigt. Dann beugte sie sich herüber und tätschelte mir mit ihren großen Händen den Kopf, während mich ihr Whiskeyatem einnebelte.
    »Du bist ein gutes Mädchen, Grace.« Sie sagte es so leise, dass ich sie kaum hörte. Bevor ich etwas antworten konnte, war sie aus der Tür, sammelte ihre Taschen auf und hievte sich den Rucksack auf den Rücken. Ich stieg aus dem Auto aus, hütete mich aber, ihr meine Hilfe anzubieten. Stattdessen neigte ich mich hinunter und gab ihr einen Kuss. Ich hasste die papierne Weichheit ihrer Haut, erinnerte sie mich doch an ihr Alter. Ihr wirkliches Alter, meine ich. Nicht das Alter, nach dem sie sich benahm, oder das Alter, das sie angab (Ich bin verdammt noch mal erst zweiundsiebzig!).
    »Verschwinde, Grace. Denk erst gar nicht darüber nach, mich hineinzubegleiten. Es ist kalt hier draußen.«
    Ich öffnete meinen Mund, um etwas zu sagen, aber sie schnitt mir mit einer Handbewegung das Wort ab.
    »Ja, natürlich, ich habe meinen Schlüssel. Noch bin ich nicht senil.« Ich diskutierte lieber nicht mit ihr, schon gar nicht nach den vier Whiskeys. Ich stieg ins Auto und öffnete das Fenster.
    »Wir sehen uns am Samstag«, sagte ich zu meiner Großmutter, die Richtung Haus ging. Sie wandte sich langsam um.
    »Samstag?«
    »Ja, Clares Hochzeit.«
    »Clare?«
    »Deine Enkelin Clare. Sie heiratet. Deswegen hast du deine Reise zum Amazonas verkürzt. Erinnerst du dich?«
    »Oh ja.« Verärgerung huschte über Marys Gesicht, als sie sich all die Vorhaben ins Gedächtnis rief, die sie hatte aufgeben müssen, nur um zur Hochzeit da zu sein.

    »Richie Rich, nicht war?« Jetzt lächelte sie, ihre Erinnerung kam rasselnd wie eine Fahrradkette in Gang.
    »Ja.« Ich nickte. »Wir sehen uns dort.« Ich drehte mich zum Auto um, wollte schnell zurück in die Wärme.
    »Grace«, rief sie, und etwas an ihrem Tonfall ließ mich innehalten. Ich drehte mich erneut um und sah sie an. Alle Spuren von Trunkenheit waren aus ihrem erschöpften Gesicht verschwunden. Sie schaute plötzlich sehr ernst. Ich wartete darauf, dass sie etwas sagte.
    »Ich habe mir in Bolivien deine Zukunft voraussagen lassen.« Also doch immer noch betrunken.
    »Muss ich nicht körperlich anwesend sein, wenn mir jemand die Zukunft voraussagen soll?« Ich gab vor, sie ernstzunehmen. Immerhin war sie meine Großmutter. Exzentrisch, das gebe ich zu, aber trotzdem meine Großmutter.
    »Ich habe ein Andenken von dir mitgebracht. Mehr braucht Samuel nicht.«
    »Samuel?«
    »Ja. Er ist ein Seher. Ich habe von ihm gehört, bevor ich abgereist bin. Man sagt, er sei einer der Besten auf der Welt.« Jetzt war ich neugierig.
    »Was meinst du damit, du hättest ein Andenken von mir mitgebracht?« Sie wirkte jetzt ein bisschen kleinlaut.
    »Ich habe eine Haarlocke von dir stibitzt. Aus dem Haus deiner Mutter.«
    »Meine Mutter besitzt eine Haarlocke von mir?« Es wurde immer seltsamer.
    »Ja, natürlich.« Granny fixierte mich mit starrem Blick, als wäre ich hier die Verrückte. »Sie hebt sie zusammen mit deinen Milchzähnen und deinem ersten Paar Schuhe in ihrem Schmuckkasten auf.« Meine Mutter hatte einen großen Schmuckkasten, also konnte das stimmen. Aber Moment, ich wurde unaufmerksam.

    »Und warum?«
    »Was warum?«
    »Warum wolltest du mir die Zukunft voraussagen oder -lesen lassen, oder was immer dieser Seher mit mir gemacht hat?«
    »Er heißt Samuel«, raunzte sie mich an. »Ich ließ es machen, weil ich …« Sie brach ab, und plötzlich wollte ich nicht mehr, dass sie weitersprach.
    »Weil ich mir um dich Sorgen gemacht habe.«
    »Du hast dir um mich Sorgen gemacht?« Wieder war ich wütend, obwohl ich nicht genau hätte sagen können, warum. »Was ist mit dir? Saust wochenlang den verdammten Himalaja hoch mit …«
    »Es waren die Anden«, unterbrach mich

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