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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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Mary. »Und ich sauste nicht hoch, ich wanderte hoch. Mit einem Führer.« Sie bedachte mich mit einem stechenden Blick, als wäre dies das Normalste von der Welt für eine Frau um die achtzig. Dann setzte sie ihre Taschen wieder auf dem Boden ab und tastete in ihrer Jackentasche nach ihrem Tabakbeutel. Ich wurde immer neugieriger, während sie sich in aller Ruhe eine Zigarette drehte, bis ich mich schließlich nicht mehr zurückhalten konnte.
    »Was hat er also gesagt, dieser … Samuel?«
    »Ich will dich nicht mit all den Details langweilen.« Jetzt wollte ich allerdings erst recht mit jedem einzelnen, noch so kleinen Detail zu Tode gelangweilt werden. »Du musst nur wissen, dass alles gut wird.«
    »Auf keinen Fall, das kannst du jetzt nicht bringen. Du kannst nicht einfach sagen, dass alles gut wird, und mir die Einzelheiten nicht verraten.« Vor Ärger stampfte ich geradezu mit dem Fuß auf.
    Die Augen meiner Großmutter leuchteten auf. »Okay, dann erzähle ich dir etwas. Du wirst jemanden kennenlernen.
Einen Mann, meine ich. Einen, der zu dir passt. Den Richtigen.«
    »Das war’s?« Ich erhob meine Stimme, um trotz des Windes, der aufgekommen war, verstanden zu werden. »Du bist um die halbe Welt gereist, um einen Wahrsager zu treffen, der damit rechnet, dass ich einen Mann kennenlerne?« Jetzt grinste ich. »Ich hoffe bei Gott, du hast für dieses kleine Glanzstück nicht allzu viel Geld hingelegt. Hat er gesagt, dass ich zu Geld kommen werde? Und Wasser überquere? Und all so was?«
    »Grace.« Mary kam auf mich zu, ihr Gesicht tauchte vor mir auf wie ein Vollmond. »Ich weiß, es klingt verrückt, aber …« Sie machte eine Pause, als fragte sie sich, ob sie es mir erzählen sollte oder nicht.
    »Sprich weiter.« Ich konnte nicht anders.
    »Es ist nur so … er wusste Sachen.« Mary war so beharrlich wie eine Henne, die ein Ei ausbrütete. »Er wusste von Spanien und von Patrick. Er sagte, das er Patrick sehen würde und dass er glücklich wäre und -«
    »Nicht!« Ich hatte nicht vorgehabt zu schreien. »Sag das nicht.«
    »Er sagte, Patrick hätte etwas für dich. Es wird etwas ankommen.«
    »Was meinst du damit?« Das Atmen fiel mir schwer, und ich hörte mein Herz in meinen Ohren pochen.
    »Ich weiß es nicht. Er hat es nicht gesagt. Aber er wusste von dem, was geschehen ist. In Spanien. Das ist doch etwas, oder nicht?« Angesichts meines Zweifels, meiner Angst wurde Mary jetzt zuversichtlicher.
    »Ich danke dir«, sagte ich. »Danke, dass du dir um mich Sorgen gemacht hast. An mich gedacht hast. Ich … ich weiß das zu schätzen.«
    »Mir ist klar, dass du mir nicht glaubst, aber du wirst
sehen. Es stimmt. Ich habe über diesen Mann, diesen Samuel Sachen gehört. Sachen, die du nicht glauben würdest.« Schlagartig wurde mir bewusst, dass es Mary war, die versuchte, sich von der Legitimität dieses Samuels zu überzeugen, denn wenn es nicht stimmte, war sie nichts weiter als eine verrückte alte Frau, die von einem bärtigen Mann in den Bergen Boliviens fantasierte. Ich sammelte ihre Taschen auf und reichte sie ihr.
    »Geh hinein, Mary. Ich melde mich die Woche, in Ordnung?« Plötzlich war ich erschöpft.
    »Du wirst sehen, Grace, du wirst sehen«, murmelte sie zu sich selbst, bis sie die Haustür erreicht hatte.
    Ich ging zu meinem Auto, hasste es, sie so zu verlassen, hasste es, dass unser Abend so umgeschlagen war, hasste meine Wut, die mich durchströmte wie heiße Lava.
    »Ich weiß seinen Namen.« Marys Ruf schnitt wie ein Messer durch die Luft, ich konnte seine Spitze fast an meinem Hals spüren und verlangsamte kurz meinen Schritt. Dann ging ich weiter in Richtung Auto, als hätte ich nichts gehört.
    Im Wagen fummelte ich mit meinen Schlüsseln herum, nicht gewillt, mich umzudrehen und zurückzusehen, für den Fall, dass sie noch weitere verrückte Sachen rufend am Fenster stand. Ich schlug das Lenkrad ein und fuhr auf die Straße. Als ich in den Rückspiegel schaute, konnte ich sie sehen. Sie stand an ihrem Gartentor und formte mit ihrem Mund ein Wort, langsam und vorsichtig. Ob sie seinen Namen tatsächlich laut rief oder nur lautlos mit dem Mund formte, konnte ich nicht feststellen. Aber ich konnte den Namen von ihren Lippen lesen, konnte ihn so klar sehen wie meine Hand, die das Lenkrad festhielt. Ich riss am Rückspiegel, drehte ihn nach unten, und sie war verschwunden.

34
    Als ich nach Hause kam, war Caroline schon im Bett. Ich streckte meinen Kopf durch ihre Schlafzimmertür und

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